Vermessung der Tristesse

Filmplakat: Vermessung der Tristesse

FBW-Pressetext

„Das Leben kann man nicht verlängern, aber wir können es verdichten.“ Diese Worte stammen von Roger Willemsen. Doch was verdichtet unser Leben? Sind es die Menschen, die wir lieben? Sind es Erlebnisse, die wir teilen, Erinnerungen, die wir uns bewahren, Stimmen und Geräusche, die in uns weiterklingen? Und was passiert mit all diesen Erinnerungen, wenn sie von Erlebnissen und Eindrücken im Hier und Jetzt übertönt werden? Wenn die Tristesse uns das Schöne von Damals zu nehmen scheint. Wenn die Geräusche eines medizinischen Untersuchungsapparats alles übertönen. Vielleicht ist das Einzige, was dann noch hilft, die Tristesse auszublenden, das ruhige Ein- und Ausatmen. In ihrem Film VERMESSUNG DER TRISTESSE vermischt die Filmkünstlerin Agnieszka Jurek Found-Footage mit privaten Aufnahmen und inszenierten Motiven und setzt mit einer Ton-Collage aus dem medizinischen Ablauf einer MRT-Untersuchung eine akustische Klammer. Die Stimmung der Bildimpressionen schwankt zwischen gelöster, unschuldiger Freude, einem wehmütig-sehnsuchtsvollen Blick zurück und einer über allen Bildern schwebenden Unruhe, dass all dies, was ein Leben ausmacht, ganz schnell zwischen den Fingern verrinnen kann. Mit VERMESSUNG DER TRISTESSE gelingt Jurek auf poetische Weise eine filmische Allegorie auf die Unaufhaltsamkeit des Lebens. Ein Film, der zum Reflektieren einlädt. Und eben auch, in aller Gewissheit der Vergänglichkeit, zum Ein- und Ausatmen.
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Gattung:Kurzfilm; Essayfilm
Regie:Agnieszka Jurek
Darsteller:Agnieszka Jurek; Fanny Aschmann; Carsten Aschmann
Drehbuch:Agnieszka Jurek
Kamera:Carsten Aschmann; Agnieszka Jurek; Jacek Jurek
Schnitt:Agnieszka Jurek
Musik:Carsten Aschmann
Webseite:agnieszka-jurek.com;
Länge:18 Minuten
Produktion: smiling line productions Agnieszka Jurek
Förderer:Kulturbüro der Landeshauptstadt Hannover

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

"Der nächste Scan dauert drei Minuten" hören wir von einer Computerstimme. Es wäre möglich, dass diese Ansage in VERMESSUNG DER TRISTESSE genau sechs mal vorkommt, bei einer Laufzeit von 18 Minuten also alle drei Minuten. Gehen wir davon aus, dass sich hierin ein strenges Strukturelement zeigt, dann kann Agnieszka Jureks Essayfilm tatsächlich als eine filmische Vermessung betrachtet werden und wir können darüber nachdenken, was da genau vermessen wird beziehungsweise worin die Tristesse bestehen könnte.

Bei Tristesse in einem Filmtitel denkt man als Cineast unwillkürlich an Otto Premingers Spielfilm BONJOUR TRISTESSE nach dem Roman von Françoise Sagan. Agnieszka Jurek hat sich nach eigener Aussage auf diesen Film bezogen und zwar auf die Art und Weise, wie Erinnerung darin thematisiert wird. Nehmen wir dann auch noch das Zitat von Roger Willemsen hinzu, das dem Film vorangestellt ist, so lässt sich ein Zugang zu dem Film finden. Es geht um Erinnerungsbilder eines Lebens, das durch eine Krankheit (deshalb die Stimme der Computertomographie) lebensgefährlich bedroht ist, ja vermutlich sogar zu Ende geht und der Film vermisst dieses Leben durch filmische Verdichtung. Es sind Erinnerungsbilder, die sich im Laufe eines Lebens angesammelt haben, mehr Erinnerungsfetzen als geordnete Linien. Sie bestehen aus unterschiedlichen filmischen Materialitäten und Formen, mal amateurhaft, mal filmisch durchdacht, die mit weiteren betont ästhetischen Bildkompositionen kombiniert werden.

Wer in einem Essayfilm nach einem roten Faden im Sinne einer kohärenten Erzählung oder einer klar konturierten Darstellung eines Gegenstandes/Themas sucht, befindet sich meist auf verlorenem Posten. Der Essayfilm hat gerade die Freiheit, die filmische Form radikal zu öffnen. Selbstredend muss dennoch ein künstlerisches Konzept erkennbar sein, das über den gesamten Film hinweg trägt. Dies ist in Agnieszka Jureks VERMESSUNG DER TRISTESSE ohne Einschränkung erkennbar. Es fußt auf dem Aufeinandertreffen der technologischen Kälte und Genauigkeit medizinischer Untersuchungen eines nicht mehr funktionierenden Körpers und der mäandernden Wärme verstreuter Erinnerungen im noch sehr lebhaften Gehirn eines Menschen. Was wir sehen, könnten genau die Bilder sein, die einem Menschen durch den Kopf gehen, wenn der Körper in die Röhre eines CT-Gerätes geschoben und darin gescannt wird. In diesem Rahmen ist der Film offen für verschiedene Interpretationsansätze, weil vieles nur angedeutet und mithin zwischen den Bildern und zwischen den Tönen erzählt wird. Die Jury entschied einstimmig, dem Film das Prädikat BESONDERS WERTVOLL zu verleihen.