Entschuldigen Sie bitte die kurze Störung

Filmplakat: Entschuldigen Sie bitte die kurze Störung

FBW-Pressetext

Nicole Y. verkauft den „Straßenfeger“, eine Berliner Obdachlosen-Zeitung. Ihre Arbeit läuft routiniert, immer nach dem gleichen Muster ab. Sie steigt in ein Abteil der U-Bahnlinie 2, sagt freundlich ihren Verkaufsspruch auf und läuft dann durch die Reisenden, immer nett, immer höflich. Dann steigt sie wieder aus und geht zum nächsten Abteil. Dies ist jetzt Nicoles Alltag. Regisseur David M. Lorenz hat die junge Frau begleitet und ihr eine Kamera mit auf den Weg durch die U-Bahn gegeben. Dadurch wird Nicoles Blick zum Blick des Zuschauers. Gemeinsam bittet man um Aufmerksamkeit, gemeinsam wartet man auf freundliches Entgegenkommen, einen Blick, irgendeine Reaktion. Und gemeinsam geht man weiter, in der Hoffnung, das nächste Abteil werde mehr Einnahmen bringen. Dazwischen erzählt Nicole aus dem Off von ihrem Leben. Als Junkie, als alleinerziehende Mutter, als Ex-Freundin eines Brutalos. Sie teilt ihre Gedanken über ihren Job, über die „Kundschaft“, über ihre Aussichten auf eine vielleicht bessere Zukunft. Es ist erstaunlich, wie dieser experimentelle Dokumentarfilm in nur 13 Minuten ein ganzes junges Leben entblättert. Zusammen mit der Hoffnung für Nicole. Eine simple Idee, filmisch überzeugend aufbereitet.
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Gattung:Dokumentarfilm; Experimentalfilm; Kurzfilm
Regie:David M. Lorenz
Darsteller:Nicole Y.
Drehbuch:David M. Lorenz; Nicole Y.
Kamera:Nicole Y.
Schnitt:David M. Lorenz
Länge:13 Minuten
Produktion: Beuth Hochschule für Technik Berlin

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Nicole ist „Straßenfeger“-Verkäuferin in Berlin. Der Zuschauer begleitet sie auf ihren Touren, erlebt ihre „Verkaufsgespräche“ und erfährt zugleich sehr viel Wissenswertes und Kluges aus dem Leben eines Menschen, dessen Leben auf dem Abstellgleis nicht vorgezeichnet war.
Regisseur David M. Lorenz ist eine bemerkenswerte experimentelle Dokumentation gelungen, die raffinierte Kamerapositionierung und die perfekte gewählte Linse lassen den Zuschauer Nicole bei ihren Touren gleichsam über die Schulter schauen, ohne dass die Reaktionen der S-Bahn-Reisenden durch ein Kamerateam verfälscht würden. Das Fischauge erlaubt dem Zuschauer das gleiche Sichtfeld wie Nicole.
Mit ihr hat Lorenz auch die ideale Protagonistin gefunden, denn ihre in die Verkaufsgespräche eingefügten Erzählungen über ihre Herkunft, ihren Werdegang und Abstieg sind so lakonisch wie klug. Hier erzählt kein Spross einer Aussenseiterfamilie, deren Weg, wie man es sich gerne zurecht legt, schon durch ihre Herkunft vorgezeichnet war. Hier wird ein individueller und doch übertragbarer Abstieg aus der sozialen Mitte erzählt.
Die große Kunst dieser Dokumentation liegt in ihrer geschickten Aufarbeitung, die Interesse am Thema und Anteilnahme am Schicksal hervorruft, ohne in Betroffenheitsklischees abzurutschen. Selten sieht man experimentelle Inszenierung und dokumentarisches Anliegen so gelungen zusammen geführt.