Jury-Begründung
Prädikat besonders wertvoll
Mit viel Mut und Ausdauer hat sich Cyril Tuschi an einen schwierigen Fall herangewagt. Wer Machtstrukturen durchschauen und sogar auch für ein Kinopublikum anschaulich machen will, muss verschiedene Wege erproben, mehrfach Anlauf nehmen und einen langen Atem haben. Anfangs scheinen die Wege versperrt. Tuschi stößt auf Hindernisse und es ist kaum zu hoffen, dass er an Chodorkowski herankommt. Wenn ihm am Ende gar ein Interview mit seinem Protagonisten bei der Gerichtsverhandlung gelingt, ist das geradezu ein Coup. Zahlreiche maßgebliche Zeitzeugen äußern ihre Meinung vor der Kamera. Manche sagen, was sie ehrlich glauben und einige geben ihr brisantes Wissen preis. Die Eigentumsfrage spielt auch in diesem Fall eine entscheidende Rolle. Wer bekommt beim Systemwechsel das frühere Volkseigentum in die Hand? Ein Verkauf zu Weltmarktpreisen hätte alle relevanten Wirtschaftsgüter Ausländern zufallen lassen. Daher wurde ein anderer Verteilungsmodus gewählt, der die Voraussetzung für die Oligarchie schuf. Die Verabredung, dass sich der neue Finanz- und Wirtschaftsadel aus der Politik heraushalten möge, wurde offenbar von Chordorkowski nicht eingehalten. Das wurde teilweise aus den Interviews deutlich, aber alles lässt sich trotzdem nicht sagen. Für die Jurymitglieder wirkten daher auch die Animationen aufschlussreich, die u. a. die Verhaftung Chordorkowskis zeigen und ihn bei seiner Karriere im Geld und Erdöl schwimmend vorführen. Vielleicht war er als Familienvater und Oligarch damals zu beratungsresistent und autoritär. Inzwischen betrachtet er sich und die Welt offenbar mit (Selbst-)Ironie. Kluge Leute finden in jeder Lage einen Ausweg, die wirklich Weisen vermeiden es, überhaupt in schlimme Lagen zu kommen. Er gesteht ein, dass er wohl nicht weise genug war. Und er praktiziert im Gefängnis eine Form der Therapie: Er arbeitet an seiner Verteidigung und vielleicht an einer politischen Karriere nach seiner Freilassung. Tuschi hat an wechselnden Schauplätzen Spuren verfolgt, die sehr viele Aspekte betreffen, aber letztlich keine sichere Aufklärung bieten können. Ehemalige Staatsmänner (z.B. Joschka Fischer) plaudern aus dem „Nähkästchen“; Familienangehörige und Weggefährten kramen in ihren Erinnerungen. Zuweilen lockern Metaphern die Recherche auf. Einzelne Gutachter vertraten die Auffassung, dass die Fülle an Fakten und Vermutungen vielleicht durch eine distanzierte redaktionelle Auswahl noch etwas überschaubarer für die Zuschauer geworden wäre. Alle stimmten jedoch darin überein, dass dieser Dokumentarfilm politisch wie künstlerisch beste Qualitäten besitzt. Die FBW-Jury votierte daher für das Prädikat „besonders wertvoll“.