Wege des Lebens - The Roads Not Taken

Kinostart: 13.08.20
2020
Filmplakat: Wege des Lebens - The Roads Not Taken

FBW-Pressetext

Eine filmische Herausforderung und ein anspruchsvolles Kinoerlebnis

Gefangen in seiner immer stärker werdenden Demenz sinniert der Schriftsteller Leo über die Wege in seinem Leben nach, die er nicht gegangen ist. Während seine Tochter Molly verzweifelt versucht, die fragile Bindung zu ihm aufrecht zu halten. Intensives und ruhig erzähltes Drama von Sally Potter, in dessen Zentrum die philosophische Frage steht, was mehr nachhallt: das gelebte oder das nicht gelebte Leben?

Mit ihrem neuen Film verlangt Sally Potter auch den Zuschauern jede Menge ab. In immer wieder neuen Erinnerungen und Bewusstseinsfragmenten kreist die Figur des Leo, den Javier Bardem eindrucksvoll verkörpert, um die Vergangenheit und die jeweiligen Emotionen, die sich in seinem immer unzuverlässiger funktionierenden Kopf festgesetzt haben. Die Kamera von Robbie Ryan verlässt Javier Bardem dabei fast nie, immer umkreist sie ihn in Nahaufnahmen, als wolle auch sie in seinem leblosen Gesicht nach einer Reaktion suchen. Elle Fanning spielt die Tochter Molly überzeugend in ihrer Sehnsucht nach dem Vater, der sich an Dinge vor ihrer Zeit erinnert. Und so wie der Zuschauer tiefer in Leos Empfinden taucht, so lernt auch Molly ihren Vater besser kennen. Die Geschichte ist auch in den verschiedenen Zeitebenen vielschichtig gestaltet, die Ausstattung ist karg und kühl, sinnbildlich für die verlorengegangene emotionale Bindung der Figuren. Gerade in der Darstellung der Demenz ist Sally Potter, auch aufgrund eigener Erfahrung, die den Antrieb für den Film bildeten, sehr authentisch, der Film verzichtet auf dramatische Überhöhungen, die Dialoge sind reduziert und lassen dem Zuschauer Zeit, die Figuren selbst zu erforschen..

Filminfos

Gattung:Drama; Spielfilm
Regie:Sally Potter
Darsteller:Javier Bardem; Elle Fanning; Laura Linney; Salma Hayek; Branka Katic; Dimitri Andreas; Katia Mullova-Brind; Milena Tscharntke; Catherine Levi; Kez Anderson; u.a.
Drehbuch:Sally Potter
Kamera:Robbie Ryan
Schnitt:Emilie Orsini; Sally Potter; Jason Rayton
Musik:Sally Potter
Webseite:upig.de;
Länge:86 Minuten
Kinostart:13.08.2020
Verleih:Universal
Produktion: Adventure Pictures, BBC Films; British Film Institute; Chimney Pot; Film i Väst; Focus Features; Glasal Films; HanWay Films;
FSK:0

Jury-Begründung

Prädikat wertvoll

Die FBW-Jury hat dem Film das Prädikat wertvoll verliehen.

Sally Potters jüngster Film WEGE DES LEBENS – THE ROADS NOT TAKEN erzählt auf eindringliche Weise von den Auswirkungen einer Demenz auf Umfeld, Beziehungen und Erinnerungen des Betroffenen. Auf verschiedenen Ebenen agieren die unterschiedlichen Gewerke dabei derart konzentriert, dass es beim Zuschauen kein Entrinnen gibt: Auf radikale Weise vermittelt so der Film den Zustand seines Protagonisten als eine Mischung aus Apathie, Schwermut und gestörter Wahrnehmung. Diese Mischung wird für die Zuschauer*innen nacherlebbar, streckenweise nahezu körperlich spürbar – eine erstaunliche Leistung, die aus dem Zusammenspiel der klaustrophobisch arrangierten Bilder, dem intensiven und aphasischen Spiel Javier Bardems sowie der assoziativ anmutenden Erzählführung resultiert. In dieser Hinsicht entwickelt der Film geradezu empathische Qualitäten, weil die konsequente Inszenierung den Zuschauer*innen ein Entkommen aus dem Zustand der Hauptfigur ebenso wenig zugesteht wie ihr selbst.
Mag dieser Ansatz begrüßenswert radikal sein, so birgt er in den Augen der Jury doch auch nennenswerte Kehrseiten. In erster Linie hat diese Konzeption nämlich zur Folge, dass sich in den Figuren so gut wie keine Entwicklung ergibt. Weil der Film im immer gleichen Rhythmus nie seine Grundstimmung aus Depression, Apathie und Schwermut verlässt, entsteht kaum Vielschichtigkeit und Tiefe. Auch eine potenziell spannende Reflexion über die im Titel anklingenden „Wege des Lebens“ stößt der Film nicht wirklich an, sondern zelebriert recht ausgedehnt in gleicher Grundstimmung die Erinnerungen der Hauptfigur.
Ein weiterer Nebeneffekt dieser konzeptionellen Konsequenz, den erzählerischen und inszenatorischen Fokus so stark auf die Hauptfigur zu legen, findet sich in der sich daraus ergebenden Figurenkonstellation. Der Film schildert einen fragilen, starren und irgendwie ungreifbaren älteren Mann, um den herum satellitenartig zahlreiche Frauenfiguren kreisen und sich nach ihm ausrichten. Auch diese Grundvoraussetzung bleibt statisch und ohne Entwicklung und trägt deshalb nach Ansicht der Jury zum Eindruck bei, dem Film mangele es in seiner Zähheit am Ende schlicht an erzählerischer Tiefe.
Trotzdem: Die mutige Entscheidung, das Thema Demenz mit einem solch radikalen formalen Ansatz zu erzählen und erfahrbar zu machen, führt zu einer nachhaltigen Filmerfahrung, die innerhalb dieses Themenfeldes ihresgleichen sucht.