We Are All Detroit - Vom Bleiben und Verschwinden

Kinostart: 12.05.22
2021
Filmplakat: We Are All Detroit - Vom Bleiben und Verschwinden

FBW-Pressetext

Ein klug beobachtetes, empathisches und vielschichtiges Porträt zweier Städte im Wandel.

Bochum und Detroit. Zwei Städte, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander gemein haben. Und doch sind beide Regionen in ihrer radikalen Veränderung der letzten Jahrzehnte miteinander vereint. Denn wo jeweils wichtige Wirtschaftszweige wie die Autoindustrie wegbrechen, da bleiben schmerzhafte Lücken. Und entstehen Chancen, von denen man kaum glaubte, dass es sie noch gibt. Mit Empathie und dem genauen Blick fürs Wesentliche gelingt Ulrike Franke und Michael Loeken ein vielschichtiges Porträt zweier Städte und Regionen im wirtschaftlichen und strukturellen Wandel.

In ihrem Film lassen sich Franke und Loeken Zeit, um ihr Publikum auf ihre Reise in die zwei Regionen mitzunehmen, die mit dem Wegfall großer Wirtschaftszweige und Betriebe ihrer stärksten Einnahmequellen beraubt wurden und seitdem einer krassen Veränderung unterworfen sind. Den erzählerischen Fokus legen die Filmemacher*innen auf die Menschen, die mit diesem Wandel umgehen müssen. Da gibt es das Ehepaar in Detroit, das sich weigert, sein Haus aufzugeben, auch wenn in der Nachbarschaft nur noch ein Drittel der Häuser überhaupt bewohnt sind. Die Beiden kämpfen um ihr Viertel, betreiben Urban Gardening, besuchen mit ihrer Produktion Wochenmärkte und bauen sich eine neue Existenz auf. Da ist das ältere Ehepaar in Bochum, das mit Sorge auf den Neubau eines Paketzentrums auf dem Opel-Gelände blickt – denn mit der Neubebauung sollen auch Akazienbäume weichen, die schon seit Ewigkeiten dort stehen. Und für die nunmehr eine Bürgerbewegung zur Erhaltung gegründet wurde. Franke und Loeken lassen in ihrem erzählerischen und visuellen Konzept immer wieder Platz auch für kleine feine Beobachtungen, die zwischen augenzwinkerndem Humor und berührender Tragik wandeln. So fangen sie mit fast stehenden Zwischenbildern die ohrenbetäubende Stille von Industrieruinen ein, filmen im leer stehenden Opel-Mutterhaus die Hinterlassenschaften deutscher Büroästhetik und lassen die verlassenen Häuser in Detroit wie Geister erscheinen. Das alles ist pointiert montiert und mit passendem Score unterlegt. Gefüllt werden Bilder mit echten Emotionen, wenn beispielsweise Kollegen aus dem Opel-Werk durch ihre Halle laufen, in der sie teilweise jahrzehntelang gearbeitet haben und die nun, kurze Zeit später, als Abrissstaub am Boden endet. WE ARE ALL DETROIT erzählt die Geschichte zweier Städte. Doch viel mehr noch erzählt der Film von Menschen, die in diesen Städten ihr Zuhause haben. Und nun miterleben und mitgestalten, wie sich in ihnen alles wandelt.

Filminfos

Gattung:Dokumentarfilm
Regie:Ulrike Franke; Michael Loeken
Drehbuch:Ulrike Franke; Michael Loeken
Kamera:Jörg Adams; Uwe Schäfer; Michael Loeken; Philipp Hallay; Fabrizio Constantini; Michael Chauvistré
Schnitt:Guido Krajewski; Bert Schmidt
Musik:Maciej Sledziecki
Länge:120 Minuten
Kinostart:12.05.2022
Verleih:Real Fiction
Produktion: Filmproduktion Loekenfranke GbR
FSK:0
Förderer:BKM; Filmstiftung NRW; DFFF

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Was haben Detroit und Bochum gemein? - Richtig, die Automobilindustrie, oder besser gesagt, dass aus beiden Städten die Autoindustrie verschwunden ist. WE ARE ALL DETROIT – VOM BLEIBEN UND VERSCHWINDEN ist eine Geschichte des Verfalls. Was Detroit einst vorweg genommen hat, droht jetzt vielen Städten. Auf die Industrialisierung folgte dort rund 150 Jahre später nicht die Postindustrialiserung, sondern eine Deindustrialisierung. Seitdem gilt Detroit als ein Synonym für den Niedergang westlicher Industriestädte. 2015, nach der Schließung der Opelwerke, ist auch Bochum in diese Riege getreten.

Ulrike Franke und Michael Loeken haben über mehrere Jahre Detroit und Bochum bereist und auf Veränderungen geschaut, die die Standortschließungen verursacht haben. Daraus entstanden ist eine äußerst lebendige Dokumentation, die von tollen Protagonisten in Form von Interview- bzw. Ansprechpartnern getragen wird. Tatsächlich haben Loeken und Franke weder mit Inserts noch eingesprochenen Texten korrigierend eingegriffen. Bis auf Andreas Gryphius vorangestelltes Poem „Alles Eitel“ lebt WE ARE ALL DETROIT von den Aussagen der Akteure vor der Kamera: Ehemalige Arbeiter, Imbissbuden- und Ladenbesitzer, Menschen, die sowohl die Zeit des Wohlstands, wie auch des Abstiegs mitbekommen haben. „Echte“ Akteure, die kein Spielfilm hätte so inszenieren können.

Dass das Autoren-, bzw. Regiepaar sowohl die menschlich-sozialen als auch die städteplanerischen Aspekte des Niedergangs fokussiert, verleiht ihrer Dokumentation nicht nur ein umfassenderes Bild der Situationen, sondern sorgt auch für überzeugendes Bildmaterial. Während die Ruinen Detroits für einige Besucher einfach nur „Ruin Porn“ sind, stehen sie für die Betroffenen selbst ein Symbol für den Niedergang einer Stadt und vor allem ihren eigenen, persönlichen Abstieg.

WE ARE ALL DETROIT dokumentiert Arbeit ganz plastisch als Identitätsstifter, als die bewusste, schöpferische Auseinandersetzung dieser Menschen mit ihrer Umwelt und demonstriert, was passiert, wenn diese Arbeit plötzlich fehlt. Sowohl in Bochum als auch in Detroit verweisen die Ansprechpartner mit Stolz auf ihre einstige Tätigkeit, auf ihr Arbeitsumfeld und die Mitarbeiter, die über die Jahre zur zweiten Familie geworden sind. WE ARE ALL DETROIT erfasst dies alles in ganz unaufdringlicher Bildsprache, lässt die Zuschauer teilhaben an den Erfahrungen der Akteure und diese selbstreflexiv auf die eigene Situation anwenden.

Darüber hinaus weist WE ARE ALL DETROIT aber auch auf die unterschiedlichen Lösungskonzepte hin, die Detroit und Bochum für sich erproben, um sich vor der wirtschaftlichen Katastrophe zu retten. Und hier zeigen sich Kontraste. Während in den USA versucht wird, neues Leben in alten Räumen zu unterzubringen, setzt Bochum auf ein Tabula Rasa, auf den flächendeckenden Abriss, um Raum für einen Neuanfang zu gewinnen. Welches Modell erstrebenswerter oder erfolgversprechender erscheint, darf der Zuschauer selbst ermitteln. Die einstigen Arbeitnehmer stehen natürlich auch hier im Vordergrund und mit ihnen ihre Versuche, Altes zu erhalten und Neues zu probieren.

Auch wenn die 118 Minuten Lauflänge der Jury ein kleines bisschen zu lang erscheinen, ist WE ARE ALL DETROIT – VOM BLEIBEN UND VERSCHWINDEN eine inspirierende Dokumentation mit reichhaltigen Denkanstößen für Bürger und Politiker. Mehr noch: WE ARE ALL DETROIT ist eine hervorragend erzählte Geschichte von Kapitalismus und Marktwirtschaft, vom Verfall und (Wieder)Aufbau und vor allem von sympathischen und immer optimistisch in eine unbekannte Zukunft schauenden Protagonisten, der die Jury einstimmig das Prädikat „besonders wertvoll“ verliehen hat.