Vogelfrei

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Am Rande eines Weinfeldes in Süd-Frankreich wird eine tote junge Frau gefunden – ist sie Opfer eines Verbrechens ? Diesem wahren oder fiktiven Schicksal ist Agnès Varda nachgegangen, indem sie in zahlreichen Rückblenden authentische oder erfundene Statements mit Augenzeugen aneinanderreiht bis zur lückenlosen biografischen Aufklärung, die sich völlig unspektakulär erweist : diese Vagabundin, diese Aussteigerin, ist nicht ermordet worden oder einem Unglück zum Opfer gefallen, sondern tatsächlich „nur“ erfroren.

Mit seiner Entscheidung honoriert der Ausschuss das Gelingen eines Films der unter Verwendung sehr origineller, fast neuartiger Stilelemente klug und durchdacht seine Geschichte erzählt, ohne geschwätzig oder sentimental zu werden. Das Drehbuch legt es darauf an, dem vogelfreien Mädchen das Geheimnis seiner Herkunft zu belassen, zugleich aber den Charakter aller anderen Menschen, die seiner extremen Form, die der extremen Form Situation seiner Protagonistin entspricht.

Verkörpert wird diese von Sandrine Bonnaire. Sie bringt es fertig, den allmählichen Verfall, den sozialen und moralischen Abstieg, das Gleiten von Hand zu Hand glaubwürdig zu interpretieren, ohne auch nur einen Augenblick etwas von der ihr trotzdem innewohnenden menschlichen würde preiszugeben, die zum Geheimnis dieser Erscheinung gehört. Eine Reihe genau voneinander abgehobener Randfiguren bleibt streng eingeordnet in den Rahmen der Handlung und stellt der Hauptdarstellerin den fast dokumentarischen Hintergrund. Kamera und Musik erden zu adäquaten Ergänzungen.