urban solutions
FBW-Pressetext
Das Echo der kolonialen Erkundung und Ausbeutung durch europäische Exotenjäger wirkt in Brasilien selbst nach 200 Jahren noch nach. Die Gesellschaft ist tief gespalten, die vermeintliche Idylle vergiftet. Der Riss zwischen Kolonialherren und Einheimischen bricht in der Neuzeit zur unüberwindbaren Schlucht zwischen Arm und Reich auf. Der Film in der Regie von Arne Hector, Vinicius Lopes, Luciana Mazeto und Minze Tummescheit verwebt gekonnt Briefe und Zeichnungen von Künstlern aus der Kolonialzeit mit der isolierenden Sicherheitsarchitektur in brasilianischen Städten, die für sich zum Selbstzweck wird. Meisterhaft inszenierte Tableaus und historische Darstellungen von Unterdrückung halten dem Heute ihren Spiegel vor. Sicherheit bedingt Gewalt, und genau das bedingt noch mehr Sicherheit. Zwischen all dem stehen die Porteiros (Portiers), als schützende Torwächter zwischen den sozialen Schichten. Die europäischen Entdecker sind längst verschwunden, die kolonialen Albträume aber setzen sich fort. Ein immens kluger und reflektierter Kurzexperimentalfilm.Filminfos
Gattung: | Dokumentarfilm; Experimentalfilm; Kurzfilm |
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Regie: | Minze Tummescheit; Arne Hector |
Drehbuch: | Minze Tummescheit; Arne Hector |
Kamera: | Minze Tummescheit |
Schnitt: | Minze Tummescheit, Arne Hector |
Musik: | Wilson das Neves |
Länge: | 29 Minuten |
Produktion: | cinéma copains GbR, Minze Tummescheit, Arne Hector |
FSK: | 0 |
Förderer: | FFA; BKM |
Jury-Begründung
In den Städten Brasiliens wird die Konfrontation von Arm und Reich und meistens auch von weißer und farbiger Haut deutlich sichtbar.URBAN SOLUTIONS zeigt das Leben in einer brasilianischen Stadt im Wechselpiel von historisch-eurozentrisch-kolonialem Blick auf Brasilien und Einsicht in die Arbeit heutiger Sicherheitsdienstmitarbeiter in brasilianischen Privatresidenzen. Dazu konterkarieren Minze Tummescheit und Arne Hector Stiche und eingesprochene Notizen eines historischen Reisetagebuchs mit Bildern moderner Sicherheitstechnik und den Gedanken der Angestellten der Sicherheitsfirmen Brasiliens.
Mit beinahe paradoxer wirkender, spielerischer Leichtigkeit zeichnet sich die Botschaft des Films ab. So, wie von früheren Reisenden Flora und Fauna des Landes begriffen wurden, so begreifen reiche, weiße Brasilianer den urbanen, brodelnden Alltag vor der Tür ihrer klimatisierten Luxusresidenzen. Elektrozäune, Stacheldraht und Wachpersonal dienen dem Begriff einer eigentlich obsolet gewordenen Angst vor dem Unbezähmbaren.
Die Jury zeigte sich begeistert davon, wie URBAN SOLUTIONS ganz allmählich die historische Verflechtung des unbedingten Ordnungswillens der Weißen und deren darin begründete Furcht vor Indigenem aufzeigt. Security-Mitarbeiter werden noch immer wie frühere Sklaven betrachtet. Solange ihr Personal nicht auffällt, möchten die brasilianischen Eliten das, was von ihrem Tisch fällt, als wohlwollende Gabe zum Überleben ihre Personals betrachtet wissen – vielleicht auch zur Entlastung ihres Gewissens.
Da die Kommunikation zwischen der wohlhabenden Minorität Brasiliens und der von ihnen abhängigen Security auf ein Minimum reduziert ist, arbeitet der Film die fiktiven Gedankengänge des Personals als Off-Text ein. In genauso reduzierten, wie intelligenten Sätzen lässt URBAN SOLUTIONS sie von einer Arbeit erzählen, die sie als genauso bedeutungslos, wie, unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, überlebenswichtig erachten. Die einzige Wahl, die sie treffen können ist die, sich als selbstständiger Straßenverkäufer durchzuschlagen oder als duldsamer Securityposten dort zu verharren, wo sie die reichen Eliten haben wollen.
Mit statischer Kamera und klaren Bildern positionieren Tummscheit und Hector ihre Aussagen. Nur ganz allmählich spitzen sich die Aussagen zu und überlagern sich die historischen Bilder der Sklaverei mit den ausdruckslosen Bildern der Sicherheitskameras der Residenzen, bis in einem furiosen Fanal zu Wilson Neves langsamem Samba „O Dia Em Que o Morro Descer e Não For Carnaval“ der Lösungsweg aufgezeigt wird: Die Revolution gegen das längst obsolet gewordene System.
Mit großem Interesse hat die Jury das politische Statement von URBAN SOLUTION verfolgt. Mit subtilen Mitteln erzielen Tummscheit und Hector ein erstaunliches Ergebnis. Nach ausgiebiger Diskussion möchte die Jury ihrem experimentellen Dokumentarfilm das Prädikat besonders wertvoll verleihen.