Ungewollte Verwandtschaft
FBW-Pressetext
Auf der Tonebene werden Protokolle verlesen. Zivile Opfer der Besatzung in der Ukraine schildern Folter und Unterdrückung, die von russischen Truppen mit Unterstützung Belarus ausgeht. Auf der Bildebene sieht man Berlin. Eine ruhige Nachbarschaft, ein Kinderspielplatz, ein Sandkasten, eine Häuserwand. Doch wo liegt die Verbindung dieser beiden Ebenen? In seinem Kurzdokumentarfilm UNGEWOLLTE VERWANDTSCHAFT versucht der Nachwuchsfilmemacher Pavel Mozhar, der selbst aus Belarus stammt, die Systematik von Verfolgung, Unterdrückung, Folter und Krieg zu untersuchen, indem er das geschilderte Grauen in konzertierten Versuchsanordnungen (Ausstattung und Kostüm: Friederike Meisel) nachstellt. Dabei sind die mitgefilmten Regieanweisungen nicht nur eine „Erleichterung“ für die Zuschauenden im erschütternden Rezeptionserlebnis, sondern auch eine kluge Reflexion im Prozess des Filmemachens an sich. Und ganz zum Schluss, wenn Mozhar seine eigene Biografie und seine „ungewollte Verwandtschaft“ mit denen, die nun für Leid und Verfolgung mitverantwortlich sind, in den Mittelpunkt stellt, spürt man, dass der Film über eine dokumentarisch-experimentelle Versuchsanordnung weit hinausgeht. Und dass er einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann, das Abstrakte eines weit entfernten Kriegsgeschehens ganz persönlich und nachhaltig greifbar zu machen.Filminfos
Gattung: | Dokumentarfilm; Kurzfilm |
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Regie: | Pavel Mozhar |
Darsteller: | André Mewis; Christiane Sill; Steffen Roll |
Drehbuch: | Pavel Mozhar; Kolja Volkmar |
Kamera: | Jonas Römmig und Konrad Waldmann |
Schnitt: | Florian Seufert; Pavel Mozhar |
Musik: | Jonas Vicent |
Länge: | 30 Minuten |
Produktion: | Mozhar & Volkmar Film GbR |
Förderer: | BKM |
Jury-Begründung
In seinem Dokumentarfilm setzt sich der belarussische Regisseur Pavel Mozhar mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine - und wie er sich selbst in diesem Krieg kulturell verortet - auseinander. Hierzu greift er auf eine Hybridisierung des Dokumentarischen zurück. Aus seinem Lebensmittelpunkt in Berlin heraus geht er zunächst modellhaft vor, indem er den Aufmarsch russischer Truppen und Panzer in der Ukraine in einem Sandkasten nachstellt. Diesem Re-Enactment folgen weitere Formen der Fiktionalisierung und Theatralisierung des Dokumentarischen, die eine Form von Verfremdungseffekt erzeugen. Auf der Tonspur hören wir in regelmäßigen Abständen die von einer Schauspielerin und einem Schauspieler eingesprochenen Berichte ziviler Opfer aus Regionen in der Ukraine, wo sich das russische Militär zurückgezogen und die Spuren ihrer Kriegsverbrechen zurückgelassen hat.Dem Film gelingt eine für die Laufzeit von 30 Minuten erstaunlich komplexe Reflexion von Kontexten des Krieges in der Ukraine. Sie erfordert beim Publikum allerdings eine enorme Konzentration. Wir erleben aus der dezidiert subjektiven Perspektive des Filmemachers mit, wie Menschen aus ihrem gewohnten Alltag gerissen wurden. Und wir erfahren von einer Kindheit (des Regisseurs) im postsowjetischen Belarus und was das mit dem Angriff auf die Ukraine zu tun hat. In vielerlei Formen der Erweiterung des Dokumentarischen versucht sich der Regisseur seiner eigenen Rolle in diesem Konflikt zu vergewissern (und vielleicht auch sein Gewissen zu befragen). Zugleich wird dem Publikum auch das Universelle an dieser enormen Belastung spürbar gemacht.
Die Jury sah in diesem originellen und experimentellen Dokumentarfilm eine Leistung, die sie gerne mit dem höchsten Prädikat BESONDERS WERTVOLL auszeichnet.