Turtleneck Phantasies

Filmplakat: Turtleneck Phantasies

FBW-Pressetext

In einem Stream of Consciousness lässt der Filmschaffende Gernot Wieland mit autobiografisch anmutenden Ausführungen die Zuschauenden in einen Sog der Erinnerungen eintauchen. Von den Händen des Großvaters über Aufnahmen des Himmels alter Super-8-Aufnahmen des Vaters bis hin zu religiösen Abziehbildern erschafft TURTLENECK PHANTASIES so komplexe Erzählgebilde, die das Leben wie einen langen, ruhigen Fluss widerspiegeln. Viele einzelne Erzähleindrücke stehen für sich und erschaffen doch etwas Ganzes, fast so wie viele einzelne Tattoos auf der Haut eines Menschen. Jedes steht für sich und strahlt eine eigene Symbolkraft aus, aber erst gemeinsam entsteht der Mensch. Ein faszinierend komplexer Experimentalfilm, der zum Dechiffrieren und Schwelgen einlädt.
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Gattung:Experimentalfilm; Kurzfilm
Regie:Gernot Wieland
Darsteller:Barbara Kuhn; Ghazala Poerschke; Hannelore Werner; Emma Kasyan
Drehbuch:Gernot Wieland
Kamera:Konstantin von Sichart
Schnitt:Alice Dalgalarrondo
Musik:Josef Varschen; Konstantin von Sichart
Länge:17 Minuten
Verleih:Argos - Centre for Audiovisual Arts
Produktion: Gernot Wieland
FSK:6
Förderer:MBB; Bundesministerium für Kunst und Kultur, Wien; NÖ Landesregierung

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Erinnerung ist genauso komplex, wie fragmentarisch. Das, was wir erinnern setzt sich aus vielerlei Facetten zusammen und ist auch deswegen so schwer kommunizierbar. Gernot Wielands TURTLENECK PHANTASIES ist der Versuch der Annäherung an eine Kindheit, an ein Wiedererkennen oder besser noch, eine Anamnesis, also eine Fähigkeit, ein bestimmtes Schema zu identifizieren, das zuvor schon einmal rezipiert wurde und vielleicht auch: daraus zu lernen.

Aber, um vom philosophischen Konzept etwas abzurücken: TURTLENECK PHANTASIES erzählt vom Versuch, eine Kindheitserinnerung, eine -empfindung, ein -gefühl wiedererstehen zu lassen. Wieland synthetisiert historische Dokumente und eigene Erinnerungen, verknüpft Erlebtes und Erzähltes und lässt dadurch ein hochkomplexes, aber diskursiv zugängliches Werk entstehen. TURTLENECK PHANTASIES auf tonaler Ebene, lässt Wieland einen greifbar-erfahrbaren Inhalt transportieren, einen kontinuierlichen Text, der von eigenen und fremden Erinnerungen handelt. Hinzugefügt hat er eine filmische Assemblage aus Fotos, Video- und Super-8-Filmen und Zeichnungen, ein visuell-kontextueller Mehrwert, der aus dem Kosmos des Erinnerns schöpft.

Tatsächlich entfaltet Gernot Wielands Experimentalfilm eine Vielzahl von Informationen… zu viele um sie auf einmal fassen zu wollen. Aber TURTLENECK PHANTASIES erzählt nicht linear. TURTLENECK PHANTASIES zeigt, dass Erinnerungen einen Kosmos darstellen, aus dem sie sich beständig ernähren. So kann Wieland Innen- mit Außenansichten, eigene Erlebnisse mit Erfahrungen anderer ergänzen. Das ist möglich, weil diese Informationen auf korrespondierenden, gesellschaftlich-kulturellen Parametern beruhen. Und für Wieland ist das zentrale Thema der Hass, der Zwang und Anpassung hervorruft und einen unbestimmten Wunsch, unsichtbar zu werden.

„Wie macht man seinen Körper unsichtbar, wenn man in solchen Strukturen gefangen ist?“ heißt es an einer Stelle des Films und die Antwort findet Wieland vorübergehend in Tattoos, die wie eine zweite Haut unangreifbar machen sollen. In immer neuen Ebenen erzählt er von der eigenen und der gesellschaftlichen Sprachlosigkeit, die aus diesen versteckten Strukturen geboren ist. Seine Bildwelt dazu: Kinderzeichnungen, Knetmännchen und komplexe Mindmaps. Die Tätowierungen, als Flucht aus der Welt in der er lebt, erkennt Wieland nicht nur in seinen Erinnerungen, sondern auch in denen an einen Altenheimbewohner von dem er gehört hat. Hinterlassen hat der nicht viel außer seinen Tätowierungen auf der Haut seiner Mitbewohner, einige kryptische Gedichte und dem wichtigen Satz: „Um Dinge richtig erkennen zu können, muss man sich von ihnen wegbewegen. Es reicht nicht, einen unsichtbaren Körper zu haben.“

TURTLENECK PHANTASIES ist sicherlich kein einfacher und vor allem kein einfach zu konsumierender Film. TURTLENECK PHANTASIES ist aber ein gelungenes Filmexperiment, das spannende Geschichten unorthodox miteinander verknüpft. Ein Experiment zum Nachdenken, zum Diskutieren, aber kein autistischer Film, gerade weil er letzten Endes nach der Freiheit von Erinnerungen sucht. Nach einer ergiebigen Diskussion kommt die Jury letztlich darüber ein, Gernot Wielands TURTLENECK PHANTASIES das Prädikat BESONDERS WERTVOLL zu verleihen.