The Holdovers
FBW-Pressetext
Alexander Paynes neuer Film erzählt von einer unfreiwilligen Gemeinschaft aus einem Lehrer, einem Schüler und der Schulköchin, die die Weihnachtstage allein in einem Elite-Internat verbringen. Mit seiner Liebe für jede einzelne grandios gespielte Figur und einer zutiefst menschlichen Botschaft hüllt THE HOLDOVERS die Zuschauenden ein wie eine wärmende Decke.Weihnachten 1970: An den Feiertagen verlassen die Schüler und Schülerinnen des Elite-Internats Barton Academy in Neu-England die Schule, um die Zeit mit ihren Familien zu verbringen. Einige von ihnen bleiben zunächst zurück – aus verschiedenen Gründen. Natürlich müssen sie beaufsichtigt werden. Eine Aufgabe, die in diesem Jahr dem unbeliebten Geschichtslehrer Mr. Hunham obliegt. Nach einigen Tagen ist außer Hunham und der Köchin Mary nur noch ein Schüler übrig: Angus. Angus mag Mr. Hunham nicht. Und umgekehrt. Doch ob sie wollen oder nicht, sie müssen da jetzt zusammen durch. Das kann ja ein frohes Fest werden.
Schon der Vorspann, in dem die Bilder grobkörnig über die Leinwand huschen und Soundtrack und Setting nostalgische Gefühle erwecken, macht klar: THE HOLDOVERS ist ein im besten Sinne retrospektiv erzählter Film. Alexander Payne und der Drehbuchautor David Hemingson setzen die Handlung in den 1970er Jahren an und lassen sich Zeit, die Figuren emotional zu „entblättern“ – mit all ihrer verschrobenen Liebenswürdigkeit. Mary, die Köchin, verwehrt in ihrer Trauer um ihren Sohn jeden Trost, der Schüler Angus verbirgt seine Verletzlichkeit hinter Trotz und Rebellion. Und Mr. Hunham trägt sein Geschichtslehrer-Wissen um vergangene Zeiten wie ein Schutzschild, um seine Mitmenschen auf Abstand zu halten. Dass die Figuren für sich alleine und miteinander funktionieren, liegt auch am exzellenten Drehbuch, dessen Dialoge leicht und spritzig sind, dabei aber nie Tiefe vermissen lassen. Und an dem umwerfenden Spiel des Schauspiel-Ensembles. Da'Vine Joy Randolph benötigt als Mary oftmals nur wenige Blicke und knappe Worte, um ihre Stärke deutlich zu machen. Dominic Sessa als Angus verkörpert in seiner ersten Rolle die komplexe emotionale Bandbreite eines heranwachsenden jungen Mannes, der mal kindlich-verletzlich erscheint und manchmal so groß tut, als gehöre ihm die ganze Welt. Und was Paul Giamatti in nur einer Großaufnahme mit seiner Mimik erzählt und wie er hinter der Maske eines abweisenden Eigenbrötlers einen gewitzten, verletzlichen und empathischen Menschen hervortreten lässt, gehört zu dem Besten, was Schauspielkunst leisten kann. Kongenial dazu passend die Kamera von Eigil Bryld mit genauem Gespür für die ruhende Großaufnahme oder Totale, ein stimmungsvoller Soundtrack voller 1970er-Tracks und ein winterlich-ländliches Setting, das einen eigenen Kosmos erschafft. In dem aus einer unfreiwilligen Gemeinschaft eine Art Ersatzfamilie wird. Das alles macht aus THE HOLDOVERS zeitlos warmherziges Erzähl- und Schauspielkino.
Filminfos
Gattung: | Drama; Komödie; Spielfilm |
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Regie: | Alexander Payne |
Darsteller: | Paul Giamatti; Tate Donovan; Da'Vine Joy Randolph; Carrie Preston; Gillian Vigman; u.v.a. |
Drehbuch: | David Hemingson |
Kamera: | Eigil Bryld |
Schnitt: | Kevin Tent |
Musik: | Mark Orton |
Webseite: | upig.de; |
Länge: | 134 Minuten |
Kinostart: | 25.01.2024 |
VÖ-Datum: | 11.04.2024 |
Verleih: | Universal |
Produktion: | Miramax Films Corporation, CAA Media Finance; Gran Via Productions; |
FSK: | 12 |
Jury-Begründung
Alexander Paynes THE HOLDOVERS ist ein Film, der mit voller Absicht so wirken will, als sei er aus der Zeit gefallen: Der Plot spielt um die Jahreswende 1970/71, der Soundtrack, der Rhythmus seiner Erzählung und überhaupt die ganze Anmutung dessen, wie er gedreht ist, imitieren die körnige Ästhetik der Autorenfilme der 1970er Jahre. Wie zeitgemäß THE HOLDOVERS aber tatsächlich ist, stellt sich erst nach und nach heraus. Und trifft dann umso mehr ins Schwarze.Es liegt eine Entspanntheit in diesem Film, die im Kontrast steht zu der angespannten Situation, in der sich seine drei Hauptfiguren befinden. Der Latein-Lehrer Paul Hunham (Paul Giamatti) ist gestresst, weil er sich um die Gruppe von Schülern kümmern muss, die über die Weihnachtsfeiertage aus verschiedenen Gründen nicht nach Hause fahren können. Die Köchin Mary Lamb (Da'Vine Joy Randolph) trauert um ihren kürzlich im Vietnamkrieg umgekommenen Sohn, der Schüler Angus Tully (Dominic Sessa) ist enttäuscht und verbittert, dass seine Mutter mit ihrem neuen Mann lieber ohne ihn Ferien macht. Was sich zwischen diesen drei Figuren zuträgt und entwickelt, davon erzählt der Film in großartig präzis geschriebenen Dialogen und einem Plot, der mehr mäandert, als dass er vorantreibt.
In bemerkenswerter Weise lässt der Film die Wandlungen seiner Charaktere offenbar werden, die nie ganz vorhersehbar sind und die Figuren damit dreidimensional und sehr realitätsnah aussehen lassen. Dabei ist THE HOLDOVERS ein Coming-of-Age-Film, der alle Fallen des fast im Übermaß vertrauten Genres kunstvoll umschifft. Selbst in seinen turbulenten Szenen vermeidet er das hohe Drama, und bleibt dabei, anhand von kleinen, alltäglichen Dingen und Geschehnissen das Innenleben seiner Figuren sichtbar werden zu lassen. Handwerklich in jeder Hinsicht gut gemacht, und von den beteiligten Schauspielern exzellent gespielt, kann man jede Haltung und jede Regung, im Positiven wie im Negativen, sehr gut nachvollziehen. Die Brücken, die er aus der Zeit des Vietnamkriegs, als die USA wie heute sehr polarisiert waren, zum Hier und Jetzt schlägt, werden erst im Lauf des Films offensichtlich. Die Konzentration auf das Zwischenmenschliche macht THE HOLDOVERS aber nicht zum weichgespülten Feelgood-Movie, sondern im Gegenteil, zum packenden Aufruf dazu, Empathie zu zeigen, gerade auch mit Figuren, die zuerst unsympathisch oder unverständlich erscheinen. Sehr gerne verleiht die Jury dem Film das höchste Prädikat BESONDERS WERTVOLL.