The Capacity for Adequate Anger

FBW-Pressetext

Vika Kirchenbauer ist Künstlerin. Seit vielen Jahren setzt sie sich in ihren Arbeiten mit Idee des Rechts auf Opazität auseinander und bezieht sich auf die Repräsentation jener Individuen und Sachverhalte, die von Normen abweichen. Im Rahmen ihrer ersten Werkschau im Kunstverein Düsseldorf begibt sich Kirchenbauer auf Spurensuche in ihrem eigenen Leben. Welche Erinnerungen bringt sie aus der Kindheit mit? Wer waren ihre Idole, ihre Leitmotive? Wie hat sie sich selbst erlebt, gesucht, gefunden und definiert? Und wie steht sie selbst zum Begriff der Kunst, den sie ja auch mit ihren Arbeiten immer wieder für sich definiert? In ihrem experimentellen Kurzfilm THE CAPACITY FOR ADEQUATE ANGER arbeitet Kirchenbauer geschickt mit Found Footage aus ihrem eigenen privaten Archiv, gegengeschnitten mit Ausschnitten aus Anime-Serien. Zunächst wirken die Bilder assoziativ in ihrer Zusammenstellung. Doch – überlagert von Kirchenbauers eigener ruhiger Stimme, die unaufgeregt durch die 15 Minuten Lauflänge führt – immer mehr ergibt das in exzellentem Rhythmus montierte Material dramaturgischen Sinn. Denn im persönlichen Hinterfragen einzelner Lebenserinnerungen steckt auch immer ein größerer Kontext, ein weiteres Feld, in das die Betrachtenden eintauchen können. Im Falle dieses Films ist es die Kunst, die Kirchenbauer reflexiv hinterfragt. Was ist Kunst eigentlich? Wie echt kann sie sein, wie echt kann ein Künstler in seinem eigenen Werk sein? Und was genau hat Marie Antoinette damit zu tun? Es sind spannende und komplexe Aspekte, die THE CAPACITY FOR ADEQUATE ANGER berührt. Und damit auch dem Werk Kirchenbauers ein neues, zutiefst neugierig machendes Steinchen im Mosaik hinzufügt.
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Gattung:Experimentalfilm; Kurzfilm
Regie:Vika Kirchenbauer
Drehbuch:Vika Kirchenbauer
Kamera:Vika Kirchenbauer
Schnitt:Vika Kirchenbauer
Musik:Cool For You
Webseite:vk0ms.com;
Länge:15 Minuten
Produktion: Vika Kirchenbauer

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Der optische Eindruck ähnelt anfangs einem klassischen Dia-Vortrag. Klar voneinander abgegrenzte (Stand-)Bilder mit persönlichen Motiven, die eher für Eingeweihte bestimmt zu sein scheinen, jeweils kurz unterbrochen von der Dunkelheit des vermeintlichen Bildtransports. Das vermittelt Privatheit, Verbindung in die Vergangenheit, aber auch isolierte Betrachtung jedes einzelnen Zusehers. Doch es mischen sich weitergefasste Found-Footage-Motive mit ein und schließlich jeweils kurze aber über die gesamten 15 Minuten hinweg platzierte Ausschnitte aus einem Anime-Film. Auch so eine Kindheitserinnerung der Filmemacherin?

Zunächst wirkt dieser Bilderreigen eher assoziativ. Doch im Zusammenspiel mit Vika Kirchenbauers ruhig vortragender Stimme fächert sich das so arrangierte Material in einen Sinnzusammenhang auf.

In ihrem selbstreflexiven Videoessay hinterfragt Kirchenbauer so ihre künstlerische Identität und die Rezeption ihrer Werke im geschützten musealen Kontext. Insbesondere aber stehen die Veränderungen im sozialen Gefüge der zeitgenössischen Künstlerin im Fokus, welche die Etablierung im Kunstbetrieb so mit sich bringen. Dies äußert sich in einer Distanz zu ihrem im Dorf zurückgelassenen Leben, in das sie nach langjähriger Abwesenheit zurückkehrt.
Hieraus ergeben sich ganz organisch Betrachtungsfragen zur Kunst im Generellen: Wie wahrhaftig kann Kunst unter dem Blickwinkel der eigenen Distanz sein. Wem nützt das am Ende, insbesondere wenn man diejenigen einbezieht, die durch gesellschaftlich-soziale und politische Barrieren jenen distanzierten Zugang zur Kultur eben nicht haben? Gerade dieser Distanzbegriff erfährt im Voice Over der Künstlerin eine eingehende Betrachtung hinsichtlich Notwendigkeit und Potential für das reflektierte Sehen und Erleben im künstlerischen Kontext.

Im Zusammenwirken mit den sehr persönlichen Standbildern aus dem (früheren) Leben und der künstlerischen Entwicklung von Kirchenbauer, kommen hier die vielfach eingeschnittenen Szenen aus dem Anime ins Spiel. Diese haben sich für die Mitglieder der Jury erst in der Nachbetrachtung nach und nach erschlossen. Neu arrangiert zwischen den statischen Reiseeindrücken und dem privaten Fotoalbum reflektieren die Ausschnitte der Anime-Serie DIE ROSEN VON VERSAILLES bzw. LADY OSGAR die verhandelten Themen der Filmemacherin: soziale Klasse, eigene (auch sexuelle) Identität sowie die Reibung zwischen eigenen Bedürfnissen und entwickeltem Verantwortungsgefühl. Als Projektionsfläche dient die in eine Männerrolle gezwungenen Protagonistin Lady Oscar im Umfeld des höfischen Lebens der Marie-Antoinette.

Der direkte visuelle Reiz dieser Bilder versprüht eine ganz eigene Wirkung mit den kindhaften, strahlenden Helden-Figur in einer Welt aus Zwängen und Herausforderungen. Auf der Tonspur berichtet die Regisseurin derweil von Marie-Antoinette, wie sie ein lebendiges Fake-Dorf im Park errichten ließ, in dem echte Bewohner das ‚wahre‘ Leben auf dem Lande vorspielen, während sich die Königin angeblich Brot ins Haar als Fashion-Insigne flechten ließ. Ist das noch dekadente Wahrnehmungsverzerrung oder schon Kunst, fragt man sich als Betrachter. Auf der (Foto-)Bildebene nähern wir uns da schon wieder der sehr persönlichen Rückkehr in ihr Heimatdorf nach langer Abwesenheit an. Ungeachtet der Tatsache, ob diese Wiedergabe ganz exakt der Abfolge im Film entspricht, belegt die Rezeption durch die Jury doch die vielschichtigen Möglichkeiten, welche die Filmemacherin im Rahmen eines experimentellen Essays für ihre Betrachtungen zu nutzen weiß.

Die Jury zeigte sich hiervon sehr beeindruckt, auch wenn man bei einmaliger Sichtung in der einen oder anderen ‚Abzweigung‘ der Betrachtung hängengeblieben ist, während Kirchenbauers Weg schon längst vorangeschritten ist. Dabei sind die Gutachter aber sehr gerne der gesamten ‚Reise‘ gefolgt. Dazu beigetragen hat u.a. die sehr dezent eingesetzte Musik, die an der Prägnanz von Kirchenbauers vortragender Stimme nicht rüttelt.
Man bekommt ein starkes Gefühl von der für die Filmemacherin angemessenen aber unterdrückten Wut, die sich aus der Unmöglichkeit ergibt, die eigene prägende Vergangenheit als etablierte Künstlerin voll und ganz ‚für die Kunst‘ zu fassen. Oder anders betrachtet: Kann man sich auch ohne eine Aufstiegsbiografie wie die von Vika Kirchenbauer eine künstlerische Mitteilsamkeit vorstellen?

Neben dem Bestimmungszweck für die eigene Ausstellung, wünscht man sich diesem Werk eine weite Verbreitung auf Filmfestivals, um auch generell für die Ausdrucksform des Experimentalfilms zu werben.

Die Jury der FBW entschied sich für die Vergabe des Prädikates BESONDERS WERTVOLL.