Shahid

Filmplakat: Shahid

FBW-Pressetext

In ihrem Langfilmdebüt begibt sich Narges Kalhor zusammen mit einer Darstellerin als ‚Avatar‘ auf eine Reise zu ihren eigenen Wurzeln – eine zwischen Fiktion und Dokumentarfilm changierende interkulturelle Auseinandersetzung mit migrantischen Wurzeln.

Narges hat einen Wunsch: Sie möchte ihren Nachnamen ändern. Dieser lautet eigentlich „Shahid Kalhor“. Doch das „Shahid“, was so viel bedeutet wie „der Märtyrer“ und mit einem Toten gleichgesetzt ist, das möchte Narges aus ihrem Namen verbannen. Leichter gesagt als getan. Denn Narges lebt in Deutschland. Einem Land, in dem die Bürokratie nicht wirklich den Wunsch verspürt, den Menschen das Leben leichter zu machen. Und so kämpft Narges gegen das Beamtendeutsch. Gegen die formularfordenden Vorgaben der Behörden – und fängt an, das Dilemma der Namensgeschichte zu entblättern. Immer begleitet von imaginierten Schatten ihrer iranischen Vorfahren. Die ihr auf den Fersen zu sein scheinen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.

Narges Kalhors SHAHID ist als Hybridfilm sowohl im Dokumentarischen als auch im Fiktionalen angesiedelt, die Geschichte, die erzählt wird, ist tragisch, melodramatisch, komisch, unterhaltsam und äußerst informativ. Durch Elemente wie einen nachgestellten Heimatkunde/Geschichts-Unterricht und die eingestreuten Voice-Over-Kommentare der Regisseurin selbst erfährt man viel über ihre iranische Heimat. Und es vermittelt sich, dass für viele Menschen, die schon in zweiter oder dritter Generation in Deutschland leben, die Geschichte ihrer Vorfahren immer noch verbunden ist mit Sehnsucht und Nostalgie – aber auch einer starken Bürde, Erwartungen zu erfüllen oder Traditionen fortzusetzen. Mit der Offenlegung des filmischen Prozesses – Kalhor gibt der Darstellerin, die in ihre Rolle schlüpfen soll, Vorgaben, wie sie sich verhalten soll, man sieht die Kamera und das Team dahinter, es gehen Dinge schief, die nicht rausgeschnitten werden - sprengt der Film die Grenzen des dokumentarischen Erzählens. So entsteht ein Film im Film, der oftmals wahnsinnig komisch ist, gerade in den absurden Szenen, die die Wirren der deutschen Bürokratie behandeln. Doch die wirkliche Kraft und Poesie des Films entstehen in den Szenen, in denen die charismatische Darstellerin Baharak Abdolifard durch die Straßen geht, verfolgt von einem Chor an iranischen Männern, einer davon stellt ihren Urgroßvater dar. Diese Szenen sind das poetische Herzstück von SHAHID, wenn die Musik (mit Hingabe komponiert von Marja Burchard und mit Zartheit interpretiert durch die Sängerin Roy Arab) die ganze Ambivalenz eines von Migration geprägten Lebens facettenreich beschreibt. SHAHID ist intelligent-sinnliches Kino, komplex und einfühlsam erzählt und mit einem ganz eigenen, faszinierenden Stilwillen inszeniert.

Filminfos

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Eine der auffälligsten Entwicklungen des Mediums Film in jüngster Vergangenheit ist die zunehmende Auflösung der Trennschärfe zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm. Vermischungen zwischen den beiden filmischen Gattungen hat es schon immer gegeben, aber die gezielte Hybridisierung als künstlerisches und ästhetisches Konzept ist doch eher neu. In diese Tendenz hinein spielt auch das Erzählkonzept der Autofiktionalität, die auch und vor allem in der Literatur anzutreffen ist. Erhoffen kann man daraus neue Erkenntnisse für komplexe Zusammenhänge, die nur mit den Mitteln des Dokumentarfilms oder denen des Spielfilms möglicherweise nicht zufriedenstellend reflektiert werden können.

SHAHID ist ein Film, der Hybridisierung als Autofiktionalität auf mutige Art und Weise für die Darstellung eines komplexen kulturellen Feldes anwendet. Es geht um weibliche Identität im Iran, um die Anerkennung der kulturellen weiblichen Identität in Deutschland und um das, was diese Identität wesentlich mitbestimmt, nämlich die Sprache. Denn es geht um die Bedeutung des Wortes "Shahid", das die Protagonistin des Films aus ihrem Namen tilgen will, eine Protagonistin, die sowohl fiktiv (sie wird von einer Schauspielerin gespielt) als auch real ist, denn sie kann als Alter Ego der Regisseurin begriffen werden, die zudem ihrerseits als sie selber mitwirkt. Shahid lässt sich im Deutschen mit "Märtyrer" übersetzen und genau das entspricht nicht ihrer weiblichen Identität, denn Märtyrer sind männliche als Helden gefeierte Mörder, mit denen sie sich nicht identifizieren kann.

Ein Kunstgriff des Films wurde bereits genannt - die autofiktionale Dopplung der Protagonistin - ein weiterer besteht darin, dass die Regisseurin ihren (von einem Schauspieler gespielten) Urgroßvater, der ein Mullah (Rechtsgelehrter) war, mit seinen Kumpels wie schwarze Ringgeister um sie tanzen lässt, die solchermaßen umwirbt und für die Sache der Märtyrer zurückzugewinnen trachtet. Diese Tanzszenen sind von hoher choreografischer und kameraästhetischer Qualität. Die Kamera scheint regelrecht mit den Märtyrern durch die kulissenhaften Straßen zu schweben, durch die sich die Protagonistin bewegt. Diesen artifiziellen Szenen stehen die eher realistischen Begegnungen der Protagonistinnen auf dem Amt und beim Psychologen gegenüber, der zu diagnostizieren hat, welche psychische Belastung durch den Namen besteht. Ganz realistisch sind allerdings auch diese Szenen nicht, vielmehr sind sie teilweise sehr komisch, was vor allem damit zu tun hat, dass sie pointiert geskriptet und überzeugend gespielt sind. Eine weitere Metaebene wird durch eine Film-im-Film-Erzählweise eingezogen. Immer wieder bricht die Fiktion auf und es wird deutlich, dass gerade ein (niedrig budgetierter) Film mit (nicht jederzeit zufriedenen) Schauspielerinnen und Schauspielern gedreht wird. Solcherart wird auf geschickte Art und Weise die Autofiktionalität (die ja nicht ganz unproblematisch ist, weil Fakt und Fiktion nicht immer markiert wird) transparent gemacht.

Narges Kalhor und ihrem Team ist ein Film gelungen, der das Publikum ästhetisch fordert und zugleich enorm unterhaltsam ist. Die Jury honoriert dies sehr gerne mit einem einstimmigen Votum für das Prädikat Besonders Wertvoll.