Filmplakat: Schalltoter Raum

FBW-Pressetext

Das Mädchen ist 9, ihr Bruder ist 18. Das Mädchen liebt ihren Bruder. Weil er ihr das Fahrradfahren beigebracht hat. Weil er mit ihr Drachen gebaut hat. Weil er immer für sie da ist. Doch sie versteht nicht, warum er nachts zu ihr ins Schlafzimmer kommt. Sich neben sie legt. Sie streichelt und küsst. Das Mädchen versteht nicht. Aber sie sagt nichts. Weil sie Angst hat, ihn zu verlieren. In ihrem Kurzfilm SCHALLTOTER RAUM behandelt die Filmemacherin Karin Guse eine Missbrauchsgeschichte nach einem Text von Cesara Rose. Die ruhig dargebrachten Worte der Off-Stimme, die zwischen Ich-Perspektive und personalem Erzählen wechseln, erschaffen einen Erzählraum, den »schalltoten Raum«, in dem Ungeheuerliches entsteht. Dem Zuhörer stockt der Atem, in seinem Kopf entstehen Bilder, die so nicht auf eine Leinwand gebannt werden können. Und doch findet Guse dafür eine Lösung: Es sind Bildfragmente, die sie den Worten entgegensetzt. Eine Porzellanpuppe, die am Boden liegt, ihre Finger, die wie Wachs wirken und von Wasser umgeben sind. Eine Glasscherbe, die im Sonnenlicht glitzert, ein unscharfes Polaroid zweier Menschen, die sich nahe sind. Und immer wieder Wassertropfen, die Guse mit einem genau darauf abgestimmten Soundkonzept zu Boden fallen lässt. Mit einem großartigen Gespür für den Rhythmus der Sprache von Cesara Rose und den so entstehenden Emotionen gelingt es Karin Guse, das Unfassbare spürbar zu machen. Ein hochsensibler Film.
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Gattung:Dokumentarfilm; Experimentalfilm; Kurzfilm
Regie:Karin Guse
Drehbuch:Karin Guse; Cesara Rose
Kamera:Karin Guse
Schnitt:Karin Guse
Länge:10 Minuten
Produktion: Karin Guse

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Sie himmelt ihn an, ihren neun Jahre älteren Bruder. Er ist ihr Vorbild, ihr Held und immer für sie da. Aber gleichzeitig missbraucht er ihr Vertrauen jahrelang durch massive sexuelle Übergriffe. Sie erträgt den Missbrauch, um seine Aufmerksamkeit und Zuwendung nicht zu verlieren.

Nur ein leicht unscharfes Foto zweier Gesichter, kurz und beiläufig abgefilmt, gibt einen vagen Eindruck von den Personen, um die es hier geht. Ansonsten bilden Wassertropfen, Lichteffekte, Puppenteile und eine modellierte Hand den sehr bedachten, farblich und psychologisch stimmigen visuellen Hintergrund für einen eindringlichen Text der Autorin. Durch die Erzählung aus dem Off – von einer Stimme wechselweise in der ersten und dritten Person gesprochen – kristallisiert sich allmählich die Geschichte des jahrelangen Missbrauchs und die Ambivalenz des Mädchens heraus. Während die Stimme in der ersten Person den positiven Erinnerungen an den großen Bruder und der kindlichen Zuneigung gehört, beschreibt sie in der dritten Person die sexuellen Übergriffe und das zunehmende Befremden und Unwohlsein, bis schließlich im letzten Satz beide Perspektiven zusammenkommen. Damit wird auf herzzerreißende Weise die Zerrissenheit von Menschen deutlich, die Missbrauch durch nahe Angehörige erleiden mussten und dadurch für ihr weiteres Leben gezeichnet sind.