Schachnovelle
FBW-Pressetext
Atmosphärisch dichte Literaturverfilmung mit einem herausragenden Oliver Masucci.Wien, 1938: Der vermögende und kulturliebende Notar Josef Bartok verwaltet das Vermögen des Adels und wird von den nationalsozialistischen Invasoren inhaftiert. Josef verweigert jegliche Kooperation und als ihn die Isolationshaft zunehmend zermürbt, gerät er in Besitz eines Schachbuches und das Blatt beginnt sich zu wenden. Philipp Stölzl adaptiert die gleichnamige Novelle von Stefan Zweig für die große Leinwand und übersetzt sie in eine eindrucksvolle Bildsprache.
Die Schachnovelle, ein Klassiker der deutschsprachigen Literatur, schrieb Stefan Zweig in den ersten Kriegsjahren im brasilianischen Exil. Sie wurde bereits 1960 von Gerd Oswald verfilmt. Nun bringt Philipp Stölzl die zeitlose Geschichte in seiner Interpretation ins Kino. Gelungen ist ihm dabei ein inhaltlich wie formal packender Film mit einer herausragenden Besetzung und einer ungeheuer dichten Atmosphäre, die Beklemmung, Verunsicherung und Ausweglosigkeit hervorragend transportiert. Den Schrecken des Faschismus und die Beschädigung des Einzelnen macht der Film auf beeindruckende Art und Weise sicht- und spürbar. Die Übergänge zwischen der Rahmenhandlung auf dem Passagierschiff auf hoher See und die Binnenhandlung im Hotel, das von der Gestapo zum Gefängnis umfunktioniert wird, erfolgen fließend. Im Verlauf des Films löst sich das Raum-Zeit-Gefüge zunehmend auf und hinterlässt dabei einige Leerstellen, die die Zuschauer*innen zur Reflexion einladen. In einem brillierenden Ensemble sticht insbesondere die schauspielerische Leistung von Oliver Masucci hervor, der Josef Bartok mit großer Intensität spielt und die Gefühlswirren eines geistig Gefolterten zwischen Widerstandskraft und Wahnsinn stets glaubhaft verkörpert. Auch Birgit Minichmayr als Josefs Frau Anna und Albrecht Schuch als Gestapo-Leiter Franz-Josef Böhm interpretieren ihre Rollen äußerst eindrucksvoll. Ein Film für die große Leinwand – packend, intensiv, bedeutend.
Filminfos
Gattung: | Drama; Spielfilm |
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Regie: | Philipp Stölzl |
Darsteller: | Oliver Masucci; Albrecht Schuch; Birgit Minichmayr; Rolf Lassgård; Samuel Finzi; Andreas Lust; Luisa-Céline Gaffron; Lukas Miko |
Drehbuch: | Eldar Grigorian |
Buchvorlage: | Stefan Zweig |
Kamera: | Thomas W. Kiennast |
Schnitt: | Sven Budelmann |
Länge: | 112 Minuten |
Kinostart: | 23.09.2021 |
Verleih: | Studiocanal |
Produktion: | Walker + Worm Film GmbH & Co.KG, Dor Film Produktionsgesellschaft mbH; |
FSK: | 12 |
Förderer: | FFA; MBB; FFF Bayern; DFFF; Österreichisches Filminstitut |
Jury-Begründung
Wien am Abend des 11. März 1938: Der Anwalt Josef Bartok begibt sich mit seiner Frau Anna auf einen Ball, denn „solange Wien tanzt, wird die Welt nicht untergehen“, meint er. Aber auf den Straßen tobt bereits der Nazi-Mob, und die Warnungen eines Freundes sind unmissverständlich. So entschließt sich das Paar, nunmehr doch die Flucht in die USA anzutreten. Zuvor will Bartok in seiner Kanzlei noch Papiere vernichten, die Aufschluss geben über die vom ihm verwalteten Schweizer Nummernkonten von Angehörigen des Adels und des Klerus. Doch das gelingt ihm nur teilweise. Noch bevor am frühen Morgen deutsche Truppen in Österreich einmarschieren, um den „Anschluss“ ans Deutsche Reich zu vollziehen, wird Bartok verhaftet und ins Hotel Métropole verbracht, das als Gestapo-Hauptquartiert dient. Hier wird er, weil er Auskunft über die Konten verweigert, einer „Sonderbehandlung“ unterzogen: Über Monate wird er in einem Zimmer eingesperrt, ohne Uhr, ohne Bücher, Nachrichten von außen oder irgendeine Beschäftigungsmöglichkeit. Die einzige Unterbrechung der Isolation bilden die Verhöre, die der zwielichtige Gestapo-Chef Böhm persönlich leitet. Die Ungewissheit und Monotonie, der Verlust des Zeitgefühls und jeglicher Struktur zerrütten Bartok, bis er eines Tages auf dem Weg zum Verhör ein Buch an sich nehmen kann. Darin werden Schachpartien beschrieben, die er nun mit Figuren, die er aus Brotkrumen formt, auf den Fliesen des Badezimmers nachspielt und auswendig lernt, wobei er sich immer mehr in einen manischen Zustand hineinsteigert. Diese lineare Filmhandlung ist verwoben mit Szenen einer Schiffsreise, die zunächst Rettung verheißt, aber zunehmend mysteriöser und beklemmender wird.Philipp Stölzls Verfilmung der gleichnamigen Novelle, die Stefan Zweig 1942 im brasilianischen Exil unmittelbar vor seinem Tod vollendete, ist eindrucksvolles, bildstarkes Historienkino und zugleich eine eindringliche Studie von Isolationsfolter und ihrer fatalen psychischen Folgen für die Opfer. Im Unterschied zur literarischen Vorlage verzichtet Stölzl auf den Ich-Erzähler und fokussiert sich stattdessen ganz auf die Hauptperson Josef Bartok, aus dessen Blickwinkel er die Geschichte erzählt. Er gibt ihm nicht nur einen vollen Namen, sondern stellt ihm auch eine Ehefrau zur Seite. Sie sind präzise gezeichnet als Angehörige des kultivierten Großbürgertums, die vor der von den Nationalsozialisten ausgehenden Gefahr zu lange die Augen verschließen und Warnungen in den Wind schlagen. Die historische Situation ist zeitlich und politisch genau markiert und in ihrer Bedrohlichkeit unmittelbar spürbar. Es ist eine mutige Entscheidung des Drehbuchs von Eldar Grigorian, die Gewichtung der Erzählstränge im Vergleich zur literarischen Vorlage quasi umzukehren und die reale politische Situation ins Zentrum zu stellen, während die Geschehnisse auf dem Ozeandampfer, die im Prosatext die zentrale Rahmenhandlung darstellen und nur bruchstückhaft damit verknüpft sind und sich zunehmend als wahnhafte Imagination erweisen. Die erste Szene dieser parallelen Handlung, die die Einschiffung im Hafen von Rotterdam und die Wiederbegegnung Bartoks mit seiner Frau zeigt, wirkt zwar sehr beklemmend, aber durchaus real. Sie lässt Hoffnung aufkommen und eine klassische Montage zweier Zeitebenen vermuten. Aber plötzlich ist Bartoks Frau verschwunden, und die Ereignisse an Bord und auch ihre Verknüpfungen mit der Binnenhandlung werden von Mal zu Mal verwirrender.
Durch diesen Perspektivwechsel steht Bartoks Konfrontation mit den Nationalsozialisten im Mittelunkt, vor allem seine Haft und Folter durch völlige sensorische Deprivation – eine schauspielerische Tour de Force, die Hauptdarsteller Oliver Masucci, mit Bravour meistert. In allen Nuancen gibt er den körperlichen und seelischen Verfall Bartoks wieder, der sich vom eleganten Lebemann voller Charme und Selbstbewusstsein zum zunehmend fahrigen, verstörten, geistig verwirrten Menschen wandelt. Am Ende ist er ein gebrochener Mann, der sich aber in seinem wahnhaften Zustand seine Widerständigkeit bewahrt hat. Bartoks Antagonist wird in beiden Erzählsträngen von Albrecht Schuch verkörpert: Mit diabolischer Intensität gibt er sowohl den äußerlich freundlichen, aber finsteren Gestapo-Chef Böhm als auch den primitiven, aber gewieften Schachweltmeister Czentovic, gegen den Bartok auf dem Überseedampfer antritt. Beide Konfrontationen sind inszeniert wie Duelle – oder wie Schachpartien, in denen es, wie Böhm es formuliert, darum geht, „das Ego des Gegners kleinzukriegen“. Auch die Nebenrollen sind großartig besetzt mit Birgit Minichmayr als Bartoks Frau Anna, Rolf Lassgård als Mister McConnor, Andreas Lust und Samuel Finzi.
Für die verschiedenen Erzählebenen hat Philipp Stölzl eindringliche Bilder und ein stimmiges visuelles Konzept gefunden. Was als opulentes Ausstattungskino beginnt, wenn der Film in Bartoks Villa und auf dem Ball in großer Eleganz und warmem Licht schwelgt, wird auf der nächtlichen Autofahrt durch marodierende Nazihorden schnell bedrohlich. Die Situation im Hotel wirkt beklemmend labyrinthisch und geht in den Gestapo-Verhören zum intensiven, beengenden Kammerspiel über. Der Ozeandampfer mit seiner bizarren Reisegesellschaft bahnt sich seinen Weg durch dichten Nebel im Dämmerlicht, während zahlreiche visuelle Effekte eine zunehmend surreale Atmosphäre erzeugen und damit ein „Schiff der Alpträume“ erschaffen.
Der wahre Alptraum findet aber im isolierten Hotelzimmer statt. Der Uniformierte, der das Essen bringt, spricht kein Wort, das Telefon ist tot. Entfernt sind Foltergeräusche und Schreie zu vernehmen. Das einzige Fenster geht auf einen engen, schachtartigen Innenhof hinaus und wird vermauert, nachdem sich ein anderer Gefangener zu Tode gestürzt hat. Die Kamera von Thomas W. Kiennast macht die Öde und Enge erfahrbar, filmt von oben, verkantet sich förmlich im Raum. Es gibt lange Szenen ohne Dialoge oder Musik, die Bartok allein in diesem Zimmer zeigen, und ein permanentes Gefühl des Ausgeliefertseins und der existentiellen Verunsicherung erzeugen. Dabei machen die Großaufnahmen alle Nuancen der Veränderung und Unruhe in seinem Gesicht deutlich. Das Szenenbild von Matthias Müsse schafft exquisite und ikonische Eindrücke, die lange in Erinnerung bleiben. Die Tongestaltung ist sehr dezent, setzt aber wichtige Akzente, und die wohltuend zurückhaltende Musik macht auch die düsteren Szenen erträglich.
Philipp Stölzl hat mit seiner Verfilmung eine interessante und aktuelle Neuinterpretation von Stefan Zweigs „Schachnovelle“ geschaffen, die eindringlich deutlich macht, wie dünn die Decke der Zivilisation ist und wie schnell eine Gesellschaft in Unrecht und Barbarei abkippen kann.