Filmplakat: Passage

FBW-Pressetext

Ein Mensch arbeitet als Geräuschemacher*in mit größter Akribie an der Nachvertonung eines Dressurpferdefilms und geht dabei buchstäblich in der Nachahmung des Pferdes auf. Ann Orens Experimentalfilm Passage weist viele Reminiszenzen an die früheste Filmgeschichte auf. Er wurde auf 16mm gedreht und nimmt Bezug auf die Chronofotografie Eadwaerd Muybridges, der vor allem Bewegungsabläufe von Pferden, Tänzerinnen und Athleten fotografisch festhielt, zum „Leben“ erweckte und als Wegbereiter des Mediums Film gilt. Nachdem die Hauptfigur die Dressurfiguren vertont hat, beginnt sie, sich selbst zunehmend in einen Zentaur zu verwandeln und vollzieht einen performativen Akt, der an die Gymnastizierung eines Pferdes erinnert. Dabei erfolgt eine Preisgabe des Körpers, die sowohl voyeuristische Assoziationen als auch eine erotische Spannung sowie die Verletzlichkeit des Körpers hervorruft. Simon(e) Jaikiriuma Paetau spielt die Figur mit höchster ästhetischer Intensität. Seinem Titel entsprechend vermittelt der Film eine Vielzahl an Passagen. Neben der Dressurfigur finden sich Passagen zwischen Bild und Ton, Tier und Mensch, Kinematograph und Kinosaal. Und wenn am Ende ein Bezug zwischen dem Auge eines Pferdes und der Linse eines modernen Kinoprojektors hergestellt wird, wird die filmische Hommage ans Kino vollendet.
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Gattung:Experimentalfilm; Kurzfilm
Regie:Ann Oren
Darsteller:Simon(e) Jaikiriuma Paetau
Drehbuch:Ann Oren
Kamera:Juan Sarmiento G.
Schnitt:Ann Oren
Musik:Manuela Schininá
Länge:12 Minuten
Verleih:Kurzfilmtage Oberhausen
Produktion: Ann Oren

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

In perfekter Harmonie präsentieren eine Dressurreiterin und ihr Pferd eine in der Hohen Schule als Passage bezeichnete Form des Trabens, bei der die erhobenen digitalen Beinpaare länger in der Schwebe bleiben. Diesen Gleichklang strebt auch die Person an, die als Foley-Artist mit großer Akribie und Hingabe an der Nachvertonung dieser Szene arbeitet. Mit diversen Utensilien und einem immer intensiveren Einsatz des eigenen Körpers sucht sie danach, den Klang des Pferdes perfekt zu kreieren. Dabei geht sie immer mehr in der Nachahmung auf und steigert sie zum performativen Akt, in dem die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen und sie selbst quasi zum Zentaur wird.

Wie läuft ein Pferd? Wie klingt ein Pferd? Was ist ein Pferd – und was ist ein Mensch? Das sind die Fragen, die Ann Oren in ihrem experimentellen Kurzfilm reflektiert, der gleichzeitig eine Reminiszenz an die Filmgeschichte und das Handwerk des Filmemachens darstellt. Bewegungsabläufe eines Pferdes markieren die Vorstufe des Kinos, als Eadweard Muybridge mittels fotografischer Serienaufnahmen untersuchte, ob ein galoppierendes Pferd zu einem bestimmten Zeitpunkt mit allen vier Beinen gleichzeitig in der Luft ist.

Um den Rhythmus von Pferdehufen geht es in Ann Orens Film auch der Person, die als Geräuschemacher*in an der perfekten Klangsimulation arbeitet. Sie wird dargestellt von der genderfluiden Künstler*in Simon(e) Jaikiriuma Paetau. Erste Irritationen, ob es sich um eine männliche oder weibliche Figur handelt, lässt sie durch die Intensität und Ästhetik ihrer Performance schnell vergessen. Dabei erreicht sie die Fluidität nicht durch Kostüme, sondern allein durch den Einsatz des Körpers. Ihr einziges Accessoire ist ein mächtiger Pferdeschwanz, der ihrer Erscheinung Kraft und Erotik verleiht, aber auch Verletzlichkeit unterstreicht. Das wirkt ebenso verstörend wie ergreifend und entspricht der zunehmenden Entäußerung und Transition der Figur in ein
halbanimalisches Wesen. Dafür haben Ann Oren und ihr Kameramann Juan Sarmiento G. beeindruckende Bilder gefunden. Mit seiner Thematik reiht sich der Film ein in eine Reihe anderer Produktionen der jüngeren Zeit, die ein ähnliches Motiv aufgegriffen haben, wie WILD (2016), THE SHAPE OF WATER (2017), BORDER (2018) oder LAMB (2021). Aber Ann Oren reflektiert, ausgehend von der Dressurfigur, nicht nur den Übergang von der menschlichen zur tierischen Daseinsform, sondern bietet darüber hinaus vielfältige „Passagen“ an, beispielsweise indem sie einen Bezug herstellt zwischen dem Auge des Pferdes und der Optik eines Kinoprojektors.

Ihre Reverenz an die Filmgeschichte erweist die Regisseurin auch im Gebrauch von analogem 16mm-Material, das in seiner Textur und dem klassischen Academy-Format an historische Vorbilder erinnert. Von ebenso großer Bedeutung ist die Tonebene: Das Sound Design und die sparsam eingesetzte Musik von Manuela Schininà sind sehr gelungen, und die Arbeit des Foley Arstists Peter Roigk ist besonders hervorzuheben. Im Grunde kann der Film auch verstanden werden als Hommage an eine Filmprofession, der normalerweise keine besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, die aber wesentlichen Anteil am Gesamtkunstwerk Film hat, indem sie Harmonie und Illusion erzeugt. So stellt sich auch beim Zuschauen die Frage, ob wir in diesem Film eigentlich ein einziges Originalgeräusch hören, oder durchgängig die in der Nachvertonung erzeugten Klänge? Würden wir die Originalaufnahme von Pferdehufen im Dressurviereck überhaupt als solche erkennen und akzeptieren, oder sind wir viel zu stark geprägt durch die Kunst der Foley Artists?