Jury-Begründung
Prädikat besonders wertvoll
Der Film zeigt Schwarzweiß-Aufnahmen aus dem Innenraum eines monumentalen Gebäudes. Nach einer Weile wird diese Bildfolge durch Textfragmente mit dem feierlichen Duktus einer historischen Rede unterbrochen. Ansonsten scheint die Montage zufällig: die Einstellungen sind redundant und länger als üblich, außerdem beginnen und enden sie scheinbar willkürlich. Außerdem wurden offensichtliche Fehler wie etwa Schwankungen in der Belichtung des Filmmaterials oder ein plötzlich auftauchendes Gesicht, das direkt in die Kamera schaut, nicht herausgeschnitten. Der Drehort ist berühmt: die Aufnahmen wurden im Lincoln Memorial in Washington gemacht und später im Film, wenn die Kamera auf die riesige Statue von Abraham Lincoln gerichtet ist, wird diese Verortung auch eindeutig erkennbar. Aber es bleibt eine grundlegende Verunsicherung, denn so wie hier werden Originalaufnahmen von Wahrzeichen im Kino sonst nie präsentiert. Christoph Girardet hat Aufnahmen der „second camera unit“ von Frank Capras Hollywoodklassiker „Mr. Smith Goes to Washington“ gefunden und dieses Rohmaterial, bei dem sich die Cutter beim Schneiden des Films für wenige, kurze Einstellungen bedient haben, hat er für seinen Experimentalfilm „One Hundred Years Later“ in den Mittelpunkt gerückt. Alles an diesem Film ist „gefundenes Material“ - auch der Titel (ein Satzteil aus einer Rede von Martin Luther King jr.) und die auf Texttafeln eingeschnittenen Textfragmente (aus Lincolns berühmtester Rede, der „Gettysburg Address“). Im Bild ist auch wiederholt ein Besucher des Monuments zu sehen, dessen Statur und Körperhaltung an den Hauptdarsteller des Films James Stewart erinnert. Dies sind Aufnahmen eines Doubles, denn von Stewart selber wurden keine Aufnahmen an dem Originaldrehort gemacht. Auf einer Ebene ist der Film interessant, weil er einen Blick in die Mechanik eines klassischen Hollywoodspielfilms bietet. Mit Mitteln wie diesen Aufnahmen wird die Illusion gestaltet, James Stewart sei tatsächlich in Washington gewesen. Aber durch seine Abfolge von langen, zum Teil fast identischen Einstellungen und das Fehlen einer klassischen Narration lädt der Film auch dazu ein, über verschiedene Themen wie die Inszenierung von politischer Macht, die Aura und Wirkung von historischen Aufnahmen, der dokumentarische Anteil von Spielfilmen oder die Seherwartungen, mit denen ein Publikum zu einem Film kommen, zu reflektieren. Bei der Diskussion nach der Sichtung stellt sich heraus, dass die Jurymitglieder sehr unterschiedliche Bedeutungen in dem Film fanden. Doch war sich die Jurydarin einig, dass „One Hundred Years later“ auch wegen seiner schillernden Ambivalenz das höchste Prädikat verdient hat.