Niemand ist bei den Kälbern

Kinostart: 20.01.22
2021
Filmplakat: Niemand ist bei den Kälbern

FBW-Pressetext

Junges deutsches Kino mit Kraft und sinnlicher Intensität – und einer Saskia Rosendahl als darstellerischem Ereignis.

Christin lebt mit ihrem Freund und dessen Eltern auf einem Hof in der ostdeutschen Provinz. Hier herrscht stumpfe Alltagstristesse, die jedes Leben zu betäuben scheint. Als der Windkraftingenieur Jan aus der Stadt auftaucht, beginnt Christin an einen eigenen Aufbruch in ein neues, ein anderes Leben zu denken. Das intensive Spiel von Saskia Rosendahl und die sinnlich-atmosphärische Inszenierung eines tristen Alltags auf dem Land machen diesen Film zu einem Ausnahmebeitrag des aktuellen jungen deutschen Kinos.

Die große Ruhe und die bewusste Trägheit, mit der Sabrina Sarabi die Romanvorlage von Alina Herbing für die Kinoleinwand aufbereitet, täuschen nicht darüber hinweg, dass unter der Oberfläche immer etwas zu brodeln scheint. Die flirrende Sommerhitze, die aufgestauten Aggressionen des Freundes, die frustrierte Langeweile der besten Freundin oder die alkoholumnebelte Wut des Vaters, der längst aufgegeben hat – all das sorgt für ein permanentes Herzklopfen und Mitfiebern in der authentischen Szenerie, die von der Kamera von Max Preiss mit dem genauen Blick für kleine Details eingefangen werden. In all dem Frust und der Lustlosigkeit ist Christin das Zentrum der Aufmerksamkeit. In jeder Szene ist sie präsent, und Saskia Rosendahl gelingt es auf beeindruckende Weise und ohne große Worte, die mittlerweile gelernte Gefühlstaubheit der jungen Frau glaubhaft darzustellen. Wie losgelöst von all dem, was auf dem Land Alltag ist, erscheint Christin, und man spürt und sieht in jedem ihrer Blicke, wie sehr sie sich wünscht, aus all dem auszubrechen. Als Anstoß von außen fungiert der Städter Klaus, den Godehard Giese charismatisch und immer ein bisschen geheimnisvoll verkörpert. Und wenn am Ende dann ein klein wenig Hoffnung aufkommt, ob ein anderes Leben doch möglich ist, dann bleiben ungeheure intensive Eindrücke einer kraftvollen Erzählung.

Filminfos

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Mit wenigen, sonnendurchfluteten Bildern skizziert Sabrina Sarabi in ihrem Film NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN eine beklemmend kleine Welt, die sich aller Weite der nordostdeutschen Landschaft zum Trotz, als bedrückend klein und einengend erweist. Hier, in einem kleinen Weiler mit gerade mal ein paar Häusern und riesigen Kuhställen, lebt die 24-Jährige Christine (bravourös gespielt von Saskia Rosendahl) gemeinsam mit der Familie ihres Freundes Jan (Rick Okon), vertrödelt den Tag, schaut widerwillig nach dem Vieh und unternimmt immer wieder kleine Fluchtversuche, die aber samt und sonders scheitern. Dabei unternimmt sie immer wieder Provokationen und Gesten des Widerstandes, die offensichtlich dazu führen sollen, dass andere für sie die Entscheidungen treffen sollen, zu denen sie selbst nicht in der Lage ist. Doch so leicht ist das alles nicht und der ersehnte Ausbruch kann schlussendlich nur gewaltsam erfolgen.

Für die Jury besteht kein Zweifel: Sabrina Sarabis beklemmender Film nach dem gleichnamigen Roman von Alina Herbing gehört zu dem besten und intensivsten Werken der letzten Monate, vielleicht sogar Jahre. Und das liegt nicht allein an den durchweg herausragenden Darsteller*innen, bei denen vor allem Saskia Rosendahl mehr als überzeugt. Es ist eine Sensation, wie feinfühlig und nuancenreich sie ihre Figur ausfüllt und all die Widersprüchlichkeiten spür- und nachvollziehbar macht, wie sie die Balance hält zwischen großer Sinnlichkeit und dem allgegenwärtigen Gefühl einer bleiernen Beklemmung.

Immer wieder fängt die Kamera kleine, sich wiederholende Gesten und Handlungen ein, die subtil Christines Gemütszustand versinnbildlichen: Das häufige sich Umziehen und das wiederholte Waschen zeigen, dass sich hier eine junge Frau nicht wohlfühlt in ihrer Haut. Der gelegentliche und sehr beiläufige Griff zur Flasche steht für die kleinen Fluchten aus einem Alltag, der selbst keine große Flucht, kein endgültiges „alles hinter sich lassen“ erlaubt - zumindest findet sie diesen Auswege nicht.

Subtil und mit wiederkehrenden Motiven und kleinen Details (das Zündeln, das zeigt, dass hier eine mit dem Feuer spielt, die Spur der toten Tieren, die ihren Weg pflastern) reichlich ausgestattet, ist NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN ein Glücksfall für das deutsche Kino - kein leichter Film, aber einer mit einem großen Reichtum an Bildern, Gesten, Nuancen und wirkmächtigen Metaphern für eine schier ausweglose Situation.