Nebenan

Kinostart: 15.07.21
VÖ-Datum: 15.09.22
2021
Filmplakat: Nebenan

FBW-Pressetext

Ein Katz- und Maus-Kammerspiel in einer Berliner Eckkneipe - klug beobachtet, pointiert geschrieben und hervorragend gespielt.

Als der Schauspieler Daniel kurz vor einem Casting in seiner Stammkneipe noch auf einen Kaffee hereinschaut, ahnt er noch nicht, was ihn erwartet. Denn der Mann, der sich zu ihm setzt, weiß scheinbar alles über ihn. Und was als unschuldiges Geplänkel beginnt, entwickelt sich schon bald zu einem irrwitzigen Katz- und Maus-Spiel. Unter der Oberfläche pointierter Dialoge behandelt das Regiedebüt von Daniel Brühl hochrelevante Themen und hält als kluge Milieustudie der künstlerisch intellektuellen Arroganz einen bitterbös reflektierenden Spiegel vor.

Mit der Figur des Schauspielers Daniel und des Ur-Berliners Bruno lassen Regisseur Brühl und Drehbuchautor Kehlmann zwei Archetypen in einem Katz- und Maus-Kammerspiel gegeneinander antreten. Und auch wenn die Stimmung bis zum Bersten angespannt ist, so ist doch das Hin und Her zwischen beiden Protagonisten ein leichtes und hoch amüsantes Vergnügen. Nicht nur sind die Dialoge mit einem großen Gespür für Timing und Effizienz gesetzt. Es liegt auch und vor allen Dingen an dem lustvollen Spiel von Peter Kurth und Daniel Brühl, dass NEBENAN nicht eine Minute zu lang erscheint. Brühl ist mutig genug, seine eigene Persona mit der Maske des blasierten und in anderen Atmosphären schwebenden Künstlers zu vermischen, der behauptet, die urige Stammkneipe sei ihm, genau wie das Haus, für dessen Penthouse er sich einen eigenen Lift einbauen ließ, ja so sehr ans Herz gewachsen. Stück für Stück fällt diese Maske, und Brühl verkörpert diese Wandlung glaubwürdig. Und Peter Kurth ist als sein fast schon meditativ ruhiges und allwissendes Gegenüber ein ebenbürtiger Sparringspartner. Mit all seiner Kraft und Größe, die Kurth schon in so vielen Rollen unter Beweis stellen konnte, bleibt sein Bruno den ganzen Film über ein sphinxartiges Rätsel. Doch die Hinweise die er gibt – in der DDR im Gefängnis, ein Verlierer der Wiedervereinigung, das Opfer einer immer stärker um sich greifenden Gentrifizierung, ein Unsichtbarer im eigenen Haus –verraten viel über unsere Zeit, über unsere Gesellschaft. Und sie machen nachvollziehbar, wie Bruno sich entschließt, den Spieß umzudrehen und die Kontrolle wiederzugewinnen. Bis zur finalen Einstellung überrascht NEBENAN durch immer wieder neue Volten. Dazu passend gewählt sind die reduzierte Musik, die sehr gute Montage und die perfekten Locations, angefangen vom stylishen und minimalistisch-kühlen Penthouse-Loft bis hin zur authentisch trostlosen Berliner Eckkneipe

Filminfos

Gattung:Drama; Spielfilm
Regie:Daniel Brühl
Darsteller:Daniel Brühl; Peter Kurth; Rike Eckermann; Aenne Schwarz; Gode Benedix; Vicky Krieps; Mex Schlüpfer; Steffen Scheumann; Nils Doergelo; Agnes Thi-Mai
Drehbuch:Daniel Kehlmann
Kamera:Jens Harant
Schnitt:Marty Schenk
Musik:Jakob Grunert; Moritz Friedrich
Länge:94 Minuten
Kinostart:15.07.2021
VÖ-Datum:15.09.2022
Verleih:Warner
Produktion: Amusement Park Film GmbH, Warner Bros. Entertainment; Gretchenfilm GmbH; Erfttal Film- und Fernsehproduktion GmbH & Co KG;
FSK:12
Förderer:FFA; MBB; DFFF

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Daniel ist ein erfolgreicher, vielbeschäftigter Filmschauspieler. Mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern samt Kindermädchen führt er ein wohlsituiertes Leben in einer schicken Maisonette-Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg. Jetzt ist er auf dem Sprung zur internationalen Karriere: In London soll er für einen amerikanischen Superheldenfilm vorsprechen. Daniel ist aufgeregt, zumal er nur eine einzige Drehbuchseite erhalten hat. Den von der Filmfirma bereitgestellten Wagen schickt er weg. Stattdessen will er in der Eckkneipe „Zur Brust“, die in diesen Morgenstunden schön leer ist, bei einem Kaffee den kurzen englischen Text für das Casting durchgehen und telefonieren, um mehr über das streng geheime Filmprojekt und seine Rolle zu erfahren. Aber daraus wird nichts, denn neben der Wirtin sind noch zwei Männer in der Kneipe. Einer von ihnen hat an der Theke Platz genommen und fixiert Daniel unentwegt. Dann bittet er um ein Autogramm, lädt Daniel zu Bier und „Sülzchen“ ein und verwickelt ihn in ein Gespräch. Er kennt alle Filme des Schauspielers, ein Fan ist er aber nicht. Er ist ein Nachbar und heißt Bruno, und er weiß erstaunliche Dinge über Daniel und seine Familie. Daniel ist erst genervt, dann erschrocken. Schließlich wird er wütend und bekommt es mit der Angst zu tun. Er will weg, doch er kann nicht aufhören, den Enthüllungen über seine Familie und Freundeskreis, seine Karriere und seine intimen Geheimnisse zu lauschen.

NEBENAN ist das Regiedebüt des Schauspielers Daniel Brühl, der auch selbst die Hauptrolle spielt und die Idee zu diesem Film hatte. Das pointierte Drehbuch stammt vom Schriftsteller Daniel Kehlmann, mit dem Brühl eng zusammengearbeitet und viele eigene Erfahrungen in die Geschichte eingebracht hat. So ist der Protagonist des Films nicht nur ein Schauspieler namens Daniel, sondern es gibt darüber hinaus viele Anspielungen und direkte Bezüge zu Leben und Werk von Daniel Brühl, was zu interessanten Ambiguitäten führt und um so mehr Vergnügen bereitet, desto besser man mit dessen Schaffen vertraut ist. Man kann sich gut vorstellen, dass er sich im Laufe seiner Karriere viele der im Film geäußerten Kritiken und Anwürfe selbst anhören musste, aber auch viele Verhaltensweisen und Handlungen an sich selbst und anderen Angehörigen seiner Branche beobachtet hat. Auf dieser Ebene ist NEBENAN eine Satire auf den Beruf des Schauspielers und den Status des „Filmstars“, was gerade im Prolog, bevor Daniel in der Kneipe ankommt, weidlich ausgespielt wird. Aber es geht um mehr als das: Als intensives Kammerspiel behandelt der Film hochbrisante Themen wie Ost-West-Gegensätze, Gentrifizierung und Stalking, denen er mit Humor und prägnanten Dialogen neue Perspektiven verleiht. Aber vor allem bietet er den beiden Schauspielern Daniel Brühl und Peter Kurth – als Daniel und Bruno – die Bühne für einen vehementen Schlagabtausch mit überraschenden Wendungen und Pointen.

Der Kneipendisput entwickelt sich zur dichten Milieustudie eines Berliner Kiezes, wo vor dem Hintergrund zunehmender Gentrifizierung Ost- und West-Biographien und Befindlichkeiten aufeinandertreffen. Daniel verkörpert den gutverdienenden Wahlberliner, der hoch oben im luxussanierten Dachgeschoss residiert, das er über einen privaten Außenfahrstuhl erreichen kann, ohne von gemeinen Anwohner:innen belästigt zu werden. Sein Gegenpart Bruno ist der Alteingesessene, der nach der Wende und Wiedervereinigung auf der Strecke geblieben ist. Er hat seinen Job und seine angestammte Wohnung verloren, die er sich nach der Sanierung niemals hätte leisten können, und in der jetzt ausgerechnet Daniel lebt. Bruno sieht in ihm die Personifizierung all jener, die von der politischen Entwicklung und vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert haben. Er ist besessen von Daniel und stalkt den ungeliebten Nachbarn heimlich von seinem „Fenster zum Hof“, wie weiland James Stewart in Alfred Hitchcocks gleichnamigen Film. Aber auch auf anderem Wege holt er brisante Informationen über Daniel und dessen Familie ein. Lange und beharrlich hat er seinen Rachefeldzug geplant – und heute ist sein großer Tag gekommen.

Was als Geplänkel beginnt, wird bald zum aberwitzigen Katz- und Maus-Spiel. Bruno gibt sich leutselig, ist höflich im Ton, aber unnachgiebig in der Sache. Wenn er Daniel mit jovialem Lächeln mustert, deutet er gleichzeitig seine tiefe Verachtung an. Daniel reagiert erst arrogant, dann gereizt und buhlt um Sympathie, wenn er in der Kneipe mit 20-Euro-Scheinen nur so um sich wirft. Mit jeder knappen Geste und kleinen Bemerkung am Rande verschiebt sich das Kräfteverhältnis zwischen den beiden – was von der schnodderigen Kneipenwirtin (Rike Eckermann) und dem Trinker im Hintergrund (Gode Benedix) mit Interesse beobachtet wird. Aber Bruno behält stets die Zügel in der Hand, und wenn er sie zwischenzeitlich locker lässt, dann nur, um sie anschließend noch enger anzuziehen. Ganz genüsslich gibt er immer pikantere Details aus dem immensen Insiderwissen preis, das er über Daniels Privatsphäre angesammelt hat. Besonders sympathisch erscheint keiner der beiden Charaktere, auch wenn man zeitweise Mitleid mit Daniel verspürt. Aber je mehr dessen aalglatte Fassade bröckelt, desto mehr Tiefe und Tragik gewinnt Brunos Figur, in der sich die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte tief eingegraben und ihre Spuren hinterlassen haben.

Doch der Film enthält sich bis zum Schluss jeder Wertung und sentimentalen Wendung. Das ist eine Stärke des hervorragenden Drehbuchs, das ganz auf die Kraft der prägnanten Dialoge setzt und daraus eine besondere Spannung und Dynamik entwickelt. Gleichzeitig ist es durchzogen von einem komödiantischen Ton, der der Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Berlins einen schwarzhumorigen Touch verleiht. Das wird unterstrichen durch die (selbst-)ironischen Elemente, die die präzise Figurenzeichnung durchziehen. Hier brillieren Daniel Brühl und Peter Kurth, die mit charismatischer Präsenz den beiden unnachgiebigen Antagonisten große Kraft und Glaubwürdigkeit verleihen. Sie bilden das Herz der Handlung, dem die übrigen filmischen Mittel untergeordnet sind. Die ruhige Kameraführung gibt in langen Einstellungen genug Raum für die spannenden Wortduelle. Die Inszenierung ist zurückhaltend, und die Musik wird nur äußerst sparsam eingesetzt. So können die Dialoge, aber auch kurze Gesprächspausen und Raumgeräusche ihre volle dramaturgische Wirkung entfalten. Und ganz am Ende steht ein von Peter Kurth interpretiertes Lied, das die Quintessenz des Films wiedergibt.