Hysteria

Filmplakat: Hysteria

FBW-Pressetext

Der neue Film von Mehmet Akif Büyükatalay erzählt von einem tiefgreifenden Konflikt an einem Filmset. Klug geschrieben und stark inszeniert – HYSTERIA ist ein doppelbödig cleverer Ritt zwischen Drama, Thriller und Mediensatire.

Bei den Dreharbeiten zu einem Spielfilm über die fremdenfeindlichen Brandanschläge auf deutsche Migrantenwohnheime in den 1990er Jahren geht ein echter Koran in Flammen auf. Der Vorfall erschüttert die Komparsen aus einem Geflüchtetenheim. Bald schon sehen sich Regisseur und Produzentin mit schweren Vorwürfen konfrontiert. Die Produktionspraktikantin Elif versteht nicht nur die Argumente der Statisten, sondern will auch auf keinen Fall die Produzentin Lilith, die für sie eine Art Vorbild ist, enttäuschen. Als die Bänder mit dem gedrehten Material vom Hausbrand gestohlen werden und der Konflikt sich immer mehr hochschaukelt, gerät Elif endgültig zwischen die Fronten.

HYSTERIA, der zweite Spielfilm des Regisseurs Mehmet Akif Büyükatalay, zeigt in einer gekonnten Mischung aus gesellschaftskritischem Drama, spannendem Thriller und überspitzter Mediensatire, wie hauchdünn die Grenze zwischen Wahrheit, Wahn, künstlerischer Vision und falschem Ehrgeiz verläuft. Mit Elif, die von Devrim Lingnau überzeugend verkörpert wird, wählt Büyükatalay eine Protagonistin, die als eigentlich Unbeteiligte zwischen alle Fronten gerät und genau wie die Zuschauenden gezwungen wird, sich einem existenziellen Konflikt zu stellen. Steht eine künstlerische Vision über dem Respekt vor kulturellen oder religiösen Befindlichkeiten? Wie weit müssen westliche Errungenschaften wie die Meinungsfreiheit vor solchen Befindlichkeiten oder gar der Zensur geschützt werden? Und wie weit ist man bereit, für die Karriere zu gehen? In seiner Dramaturgie führt das Drehbuch die Zuschauenden immer wieder raffiniert auf falsche Fährten und hält uns als Publikum den Spiegel vor, wie sehr wir alle Vorurteile und Klischees, von denen wir uns frei glauben, doch schon längst verinnerlicht haben. Dass der Film mit einem Feuer sowohl beginnt als auch endet, funktioniert als reinigende Katharsis und bitterböse Abrechnung mit der Gesellschaft gleichermaßen. Dazwischen liegt eine spannende Geschichte, ein intensives, von einem starken Ensemble getragenes Drama – und eine Menge zwischenmenschliche, entlarvende und demaskierende Hysterie.
Prädikat besonders wertvoll

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Filminfos

Gattung:Drama; Spielfilm
Regie:Mehmet Akif Büyükatalay
Darsteller:Aziz Capkurt; Serkan Kaya; Nicolette Krebitz; Nazmi Kirik; Devrim Lingnau Mehdi Meskar
Drehbuch:Mehmet Akif Büyükatalay
Kamera:Christian Kochmann
Schnitt:Andreas Menn; Denys Darahan
Musik:Marvin Miller
Webseite:filmfaust.org;
Länge:104 Minuten
Verleih:Real Fiction
Produktion: filmfaust GmbH, ZDF/Das kleine Fernsehspiel;
Förderer:FFA; DFFF; Film- und Medienstiftung NRW; HessenFilm und Medien

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Mehmet Akif Büyükatalay spielt in HYSTERIA mit einem der gefährlichsten Tabus unserer Zeit. Sein Film gehört zu der Gattung „Film im Film“ - in ihm wird also von den Dreharbeiten und Produktionsumständen eines fiktiven Filmprojekts erzählt. Auf dem Set eines Films, der von den Brandanschlägen von Solingen handelt, wird bei Aufnahmen ein verbrannter Koran gefunden. Komparsen, die in der Szene mitgespielt haben und in einer Geflüchtetenunterkunft leben, beginnen eine heftige Diskussion über diese vermeintliche Blasphemie, und die wird dadurch noch angeheizt, dass der Regisseur Yigit sich vorbehält, diese Aufnahmen in seinem Film zu verwenden. Bei den Auseinandersetzungen beziehen die Laiendarsteller und Mitglieder des Filmteams verschiedene Positionen zu diesem Thema. Yigit beruft sich auf seine künstlerische Freiheit, die Geflüchteten aus Ländern im Nahen Osten fühlen sich zum Teil als Muslime beleidigt, zum Teil halten sie die Haltung von Yigit für politisch unverantwortlich. Bei diesem Streit tritt das Machtgefälle zwischen den Filmemachern und den Geflüchteten offen zutage, und am wenigsten Macht hat die junge Regieassistentin, die zwischen die Fronten gerät, als die Filmkassetten mit den Aufnahmen verschwinden und die Stimmung durch Verdächtigungen und Schuldzuschreibungen immer hysterischer wird. Mehmet Akif Büyükatalay nutzt hier geschickt Genrekonventionen, um in einer filmischen Versuchsanordnung aktuelle Problematiken wie Rassismus, Postkolonialismus, muslimischen Antisemitismus und gesellschaftliche Machtstrukturen durchzuspielen. Sein Film beginnt wie eine quasi-dokumentarische Darstellung der fiktiven Dreharbeiten, er wird aber immer mehr zu einem Kammerspiel, bei dem die Protagonist*innen ihre Auseinandersetzungen in den Räumen einer Wohnung führen und die Atmosphäre zunehmend klaustrophobischer und bedrohlicher wird. Bald sind alle Protagonist*innen kompromittiert, denn alle scheinen eine eigene Agenda zu haben und diese auch mit unsauberen Mitteln durchsetzen zu wollen. In seinen besten Momenten erinnert HYSTERIA an die paranoiden Thriller der 1970er Jahre und Mehmet Akif Büyükatalay gelingt hier das Kunststück, einen spannenden Film zu inszenieren und zugleich die verschiedenen Diskurse auf einem intellektuell angemessenen Niveau zu präsentieren. Zudem überzeugt sein Film durch eine geschickte Dramaturgie, die sich etwa dadurch offenbart, dass die Handlung mit einem Feuer beginnt und mit einem Feuer endet. Die Schlusspointe ist dann aber der Disclaimer „Während der Dreharbeiten zu „Hysteria“ wurde kein Koran verbrannt“, durch den deutlich wird, dass auch HYSTERIA selbst, wie sein „Film im Film“, ein Politikum ist.