Handbuch
FBW-Pressetext
Belarus, August 2020: In den Tagen nach der Präsidentschaftswahl finden zahlreiche Proteste statt, über 7000 Menschen werden festgenommen. Hunderte von ihnen berichten später von Schlägen und Misshandlungen, die sie auf dem Weg zur Haft und in der Haft selbst erfahren haben. Der Filmemacher Pavel Mozhar übersetzt diese schockierenden Zeugenberichte in ein sachlich-wissenschaftliches „Handlungsmuster“ der Folter, indem er die beschriebenen Misshandlungen in seiner Wohnung in Neukölln als Versuchsanordnung nachstellt. Es ist genau diese Objektivierung eines unfassbaren Vorgangs, die das Grauen der Taten noch deutlicher sichtbar macht und die uns die staatlich angeordnete Willkür eines Verbrechens gegen Menschenrechte so nahe bringt wie es eine traditionelle, journalistisch distanzierte Berichterstattung gar nicht vermag. Aufgrund seiner radikal nüchternen Vorgehensweise ist HANDBUCH ein enorm wichtiger und erschütternder filmischer Beitrag zu einer hochaktuellen DiskussionFilminfos
Gattung: | Dokumentarfilm; Kurzfilm |
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Regie: | Pavel Mozhar |
Drehbuch: | Pavel Mozhar |
Schnitt: | Florian Seufert; Pavel Mozhar |
Länge: | 26 Minuten |
Produktion: | Pavel Mozhar |
Jury-Begründung
Ein nüchternes, fast wissenschaftlich anmutendes Manual des Grauens, der Folter und der körperlichen Grausamkeit entwirft Pavel Mozhar in seinem eindrücklichen Kurzfilm HANDBUCH. Basierend auf Hunderten von Interviews mit Verhafteten, die sich nach der Präsidentschaftswahl in Belarus im August 2020 in den Händen der Spezialpolizei OMON befanden und von dieser gefoltert wurden. In seiner Wohnung in Berlin-Neukölln rekonstruiert der Regisseur mit geringen Mitteln, aber großer Wirksamkeit die dort angewandten Foltermethoden nach Art eines Lehr- oder Demonstrationsvideos.Mit sachlich-kühler, nahezu wissenschaftlicher Akribie und der Hilfe eines schwarz gekleideten, durch eine Sturmhaube anonymisierten Folterinstruktors, unterlegt von in russisch eingesprochenen Berichten der Verhafteten und Gefolterten wird aus dem leer geräumten Zimmer des Filmemachers eine Folterkammer, in der nach Art eines Lehrbuchs und wie in einem Stationendrama die verschiedenen Formen des Quälens ohne jegliche Rührung vorgeführt werden. Stets sind die Schläge mit dem Schlagstock nur angedeutet, nie verzieht eines der Opfer auch nur eine Miene, während die ebenfalls nüchtern vorgetragenen Berichte ein ganz anderes Bild des unfassbaren Schmerzes und der systematischen Unterdrückung und Entwürdigung zeichnen.
Dabei gerät ein kleines Zimmer mit weniger als 20 Quadratmetern, das Mozhar zu Beginn des Films in immer neuen Detailaufnahmen zeigt, zu einer Bühne. Mit wechselnden, oft auch nur angedeuteten Accessoires ausgestattet, ist es Folterkammer, Verhörzimmer, Gefängniszelle. Nur an einer Stelle hilft eine sehr schlicht gestaltete Animation bei der Illustrierung des Gesagten. Zugleich ist es die Heimat des Filmemachers, der erleben musste, wie in jenen Tagen die Grausamkeit in seiner Heimat in seine eigene kleine Welt eindrang.
Mit wenigen, aber überaus effektiv eingesetzten Mitteln gelingt es dem Regisseur eindrucksvoll, Leid, Folter und Verfolgung in seiner Heimat sicht- und spürbar zu machen. Ein Film, der eindrucksvoll zeigt, mit wie wenigen Mitteln und klarer Fokussierung sich ohne nah Mitleid zu heischen, von solchen Taten berichten lässt und wie niederdrückend gerade die Abwesenheit jeglicher Emotion sich manchmal gestalten kann.
Perfide und überaus wirkungsvoll gestaltet sich dieses letztendlich sehr konsequente Umsetzen auch für das Publikum, das auf der einen Seite wie die Opfer (Phantom)Schmerzen empfindet, andererseits verstärkt durch die Tatsache, dass der Folterknecht mehrmals direkt in die Kamera und damit in unsere Augen blickt. Denn theoretisch wissen wir nun selbst, wie man möglichst effizient einen Menschen quält. Ob wir dieses Wissen nun einsetzen oder nicht, das liegt ganz allein an uns.
Ein eindrücklicher, erschreckender und abgründiger Film, der das Monströse gerade in seiner Sachlichkeit enthüllt und vorführt.