German Crime Story: Gefesselt

VÖ-Datum: 13.01.23
2022
Filmplakat: German Crime Story: Gefesselt

FBW-Pressetext

Die hochspannende und psychologische Thriller-Serie arbeitet den berüchtigten Fall des „Säurefassmörders“ aus den 1980er Jahren auf. Ein kluges Drehbuch, eine spannende Krimi-Dramaturgie und das einprägsam intensive Spiel von Oliver Masucci machen diese sechsteilige Miniserie zu etwas Außergewöhnlichem im True-Crime-Genre.

Hamburg, Ende der 80er, Anfang der 90er: Der gelernte Kürschner Raik Doormann lebt als unauffälliger Ehemann und Vater inmitten einer gutbürgerlichen Nachbarschaft. Gerne kommen Freunde zum Grillen vorbei, auch im Schwimmverein ist Raik aktiv und beliebt. Dabei führt Doormann ein grauenvolles Doppelleben. Unter seinem Haus, in einem Atomschutzbunker, den er extra anfertigen ließ, hält er Frauen gefangen, quält und missbraucht sie und raubt sie aus. Als er eines Tages eine Geisel einfach vor dem Polizeirevier freilässt, scheint ihr zunächst niemand zu glauben. Es kommt zum Prozess, in dem ebenfalls Zweifel an der Aussage des Opfers aufkommen. Doch dann scheint es plötzlich eine Verbindung zu einem ungeklärten Vermisstenfall zu geben. Und die energische Ermittlerin Nela Langenbeck, die gerade zur Mordkommission versetzt wurde, nimmt die Spur von Doormann auf.

Schon der drastische Einstieg in die Serie, die in der Regie von Florian Schwarz (Drehbuch: Michael Proehl, Dirk Morgenstern, Max Eipp, Mark Monheim und Dinah Marte Golch) entstanden ist, setzt einen gruselig-düsteren Ton. Die Handlung rund um Raik Doormann ist inspiriert von dem wahren Kriminalfall rund um Lutz Reinstrom, dessen „Säurefassmorde“ Anfang der 1990er Jahre für Entsetzen und einen medialen Sturm sorgten. Die Macher:innen hinter GERMAN CRIME STORY zeichnen seine Taten sowie die Verfolgung durch die engagierte Ermittlerin Atzeroth-Freier (in der Serie: Nela Langenbeck), mit großer Detailkenntnis nach. Immer wieder wechselt die Erzählperspektive von Täter zu Ermittlerin, dabei eint beide Figuren die Besessenheit, ihr Ziel zu erreichen. Die Serie erzählt achronologisch, springt zwischen den Zeiten hin und her. Die Bildgestaltung, die in düsteren Braun- und dunklen Grüntönen eine beklemmend-drückende Stimmung evoziert, verbindet mehrere Ebenen, unsichtbare Schnitte und lange Kamerafahrten wandeln leichtfüßig zwischen den Zeiten. Die exzellente Kamera von Philipp Sichler ist Doormann und den Opfern ganz nah, bewegt sich dynamisch und macht gleichzeitig die Enge des Raums unter der Erde spürbar. Das ganze Ausmaß der grausamen Gewalt zeigt die Serie nicht, doch es reichen bildliche Andeutungen und die überaus authentisch dargestellte Angst der Frauen, um sich auf die Zuschauenden zu übertragen. Als Doormann liefert Oliver Masucci eine schauspielerische Tour-de-force. Der norddeutsche Dialekt, der weiche Singsang der Stimme, der sprunghafte Wechsel in Mimik und Gestik von Gentleman zu Monster, der böse Ausdruck in den Augen, der mal Gier, mal Lust, mal Besessenheit reflektiert – Masucci taucht perfide in die Rolle des sadistischen Verbrechers ein und erfüllt jede Szene mit Eiseskälte. Als seine „Gegenspielerin“ agiert Angelina Häntsch mit energischem Pragmatismus, die Jagd nach dem Mörder wird zu einem Katz-und-Maus-Spiel, bei dem der erzählerische Fokus auch auf den ausführlichen Verhörszenen liegt, die durch eine kluge Dramaturgie atemlose Spannung erzeugen. Als Entführungsopfer verkörpern Nikola Kastner und Valentina Sauca eindrücklich und nachvollziehbar die unfassbare Panik und Todesangst sowie ihr hilfloses Ausgeliefertsein. Neben der True-Crime-Handlung erzählt GERMAN CRIME STORY auch eine Geschichte über die deutsche Gesellschaft Anfang der 1990er Jahre und die Stellung der Frau darin. Eine Polizistin, die von ihren männlichen Kollegen nicht ernst genommen wird, ein Entführungsopfer, dem nicht geglaubt wird – all dies reflektiert die Serie dank ihres klugen Drehbuchs, einer glaubwürdigen Inszenierung und in einem authentischen Setting. GERMAN CRIME STORY: GEFESSELT ist eine hochspannende, psychologische Thriller-Serie, die sich nicht nur für Fans des klassischen True-Crime-Genres lohnt.
Prädikat besonders wertvoll

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

True Crime boomt. Das Label des Authentischen trägt dazu bei, dass zurzeit sehr viele Produktionen erfolgreich, wenn auch nicht immer qualitativ herausstechend geraten. Bisweilen nimmt die Fiktionalisierung des realen Schreckens dabei wenig Rücksicht auf die Vorbilder der realen Welt. Manchmal aber, wie in der vorliegenden sechsteiligen Miniserie, ist sie aber auch der Ansatz dazu, mehr über die reale Geschichte hinter der fiktionalen True Crime Story erfahren zu wollen.

Lutz Reinstrom, der Hamburger „Säurefassmörder“, besitzt einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat er seine Opfer im eigenen Atombunker gequält, ermordet und ihre sterblichen Überreste in Fässern mit Salzsäure beseitigt. Folgt man dem Vorspann von GERMAN CRIME STORY: GEFESSELT, dann hat die Serie Namen und Orte fiktionalisiert und erzählt von den sadistischen Taten eines erfundenen Alter Egos jenes Lutz Reinstroms: GEFESSELT berichtet von Raik Doormann und berichtet auch von den Ermittlungsarbeiten seiner polizeilichen Gegenspielerin, der Kommissarin Nela Langenbeck, die schließlich zu dessen Ergreifung geführt haben.

GERMAN CRIME STORY: GEFESSELT ist eine Serie mit durchaus erschütternden Szenen. Insbesondere die ersten beiden Folgen stehen für Suspense und an das Genre der Gore-Filme erinnernde, intensivste Momente. Die darauf folgenden Episoden konzentrieren sich dagegen deutlicher auf Ermittlungsarbeit und gesellschaftliche Hintergründe.
Interessanterweise ist diese Dichotomie von der Jury recht unterschiedlich aufgenommen worden. In der Diskussion zeigte sich, dass der drastische Einstieg für den einen Teil der Jury im Wesentlichen gekonnt inszenierten Thrill bedeutet, wohingegen der andere Teil der Jury die Bilder als etwas zu drastisch empfunden hat. Diese Zweiteilung präsentiert sich in umgekehrter Folge bei den weiteren Folgen. Während diese einem Teil der Jury beinahe ein wenig langatmig erschienen, erkennt der andere Teil der Jury gerade in der kriminalistischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung die besonderen Stärken der Serie.

Dennoch: Trotz, oder vielleicht sogar wegen verschiedenartiger Sichtweisen ihrer Mitglieder hat GERMAN CRIME STORY: GEFESSELT die Jury begeistert. Wie stark, das ließ sich immer wieder an kontrovers geführten Diskussion erkennen. Zwar können persönliche Vorlieben und Geschmäcker durchaus einen Einfluss auf Urteils- und Entscheidungsfindung haben, dennoch gibt es objektive Kriterien, an denen sich die Jury orientiert. Und hier hat GEFESSELT beeindruckt. Da ist zum einen natürlich das Drehbuch, das mehr als bloße Unterhaltung bietet. Das Drehbuchteam weiß in Zusammenarbeit mit Regisseur Florian Schwarz Action und Hintergrundinfos so zu vereinen, dass eine überzeugende Abbildung der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse entstehen kann. Parallel zu den sexuell induzierten, sadistischen Morden an Frauen, zeichnet die Serie nämlich auch ein außergewöhnlich glaubhaftes Bild der extrem männerdominierten Welt der 80er und frühen 90er Jahre. GERMAN CRIME STORY: GEFESSELT macht auch nicht vor kumpelhaften Schulterschlüssen und männlich-kontrollierten Hierarchien bei der Kriminalpolizei halt, die seinerzeit auch dem Vorbild von Kommissarin Nela Langenbeck die Ermittlungen schwer gemacht haben.

So widerlich er sich gibt, die Serie zeichnet den Charakter Raik Doormanns ebenso hervorragend, wie nuanciert. Sie gibt überaus treffend wieder, wie er, trotz all seiner Übergriffe, in einem bieder-bürgerlichen Umfeld respektiert werden konnte. Besonders eindrücklich zeigt die Serie seine erstaunlichen manipulativen Fähigkeiten, mit denen er Ängste, Wünsche und Neugier seines Umfelds zu nutzen verstand. Doormanns Opfer hingegen hätten, so die Jury, in der Verfilmung noch ein wenig deutlicher konturiert werden können. Aber: GERMAN CRIME STORY: GEFESSELT erzählt natürlich eine Kriminal- und keine Opfergeschichte und, auch das ergab die Diskussion, will dementsprechend die Taten Doormanns und die Arbeit der Polizei thematisieren. Seine Opfer geraten daher notgedrungen in den Hintergrund.

Ähnliche Abwägungen hatte die Jury bei der Frage nach dem Sinn einiger wahrnehmbarer Redundanzen vorzunehmen. Wiederholte Sätze und Redewendungen fielen auf der tonalen Ebene und vor allem durch das Streaming ermöglichte Binge-Watching auf. Andererseits, auch das gibt die Jury zu bedenken, ist bei einer gestreamten Serie damit zu rechnen, dass nicht alle Zuschauenden kontinuierlich alle Folgen schauen. Daraus kann sich durchaus ein gewisser Zwang zu Repetitionen erklären.

Spätestens ab Folge 3 wird die Dramaturgie der Serie zunehmend durch eine psychologisierende Ebene beherrscht. Ein schwieriges Unterfangen, bedenkt man die Heterogenität eines anzusprechenden Publikums. Hier, so die Jury, erscheint die Serie nicht nur glaubhaft, sondern weiß auch das Suspense-Element so kontrolliert einzusetzen, dass größere Längen vermieden werden.

Neben dem Drehbuch hat die Jury den herausragenden Cast gelobt. An erster Stelle steht hier natürlich das mutige Spiel von Hauptdarsteller Oliver Masucci, das sicherlich viel zur Glaubwürdigkeit der Figur Raik Doormanns beiträgt. Die Nebenrollen sind brillant und (bis auf die Ausnahme Sylvester Groths) mit relativ unbekannten Darstellern besetzt, was die Jury als außergewöhnlich und positiv hervorhebt. Gerade weil GERMAN CRIME STORY: GEFESSELT auf die Manierismen sattsam bekannter Stars verzichten kann und sich traut, neue Gesichter zu zeigen, wirkt die Serie wesentlich authentischer als manche lineare TV-Produktion.

Ähnlich positiv wertet die Jury die Kamera, Lichtsetzung sowie die gesamte Postproduktion. Den Gewerken ist zu verdanken, dass die Sprünge in den Zeitebenen keine Fragen und Ungewissheit bei den Zuschauern hinterlassen, sondern zum spannenden, wie auch visuell-kreativen Erlebnis geraten. Überhaupt lobte die Jury das dramaturgisch-ästhetische Erlebnis. Lange, spannend gestaltete Dialogszenen ohne einen Schnitt, treffen auf interessant montierte Übergänge. GERMAN CRIME STORY: GEFESSELT ist keine simple Hausmannskost, sondern intelligente Unterhaltung, die ihr Publikum bisweilen stark fordert. Ob daher Folge sechs der Miniserie, mit Erklärungen zu Doormanns Charakter, Verhalten und Wesen wirklich notwendig ist, diskutierte die Jury angeregt. Denn die Frage steht im Raum, ob ein Film bzw. eine Serie wirklich auf alles eine Antwort geben muss.

Die Jury sieht in der psychologischen Thriller-Miniserie GERMAN CRIME STORY: GEFESSELT eine im Genre gelungen vielschichtige, spannende und visuell, bzw. ästhetisch ansprechende Produktion. Weil sie nicht nur die spektakulären Aspekte bedient, sondern beinahe beiläufig auch die gesellschaftskritischen bzw. zeitgeistigen Facetten des Falls mitliefert, ist die Serie ein überaus geglücktes Beispiel für gehobene Unterhaltung. Gleichzeitig scheint der Jury die Serie von handwerklicher Seite über jeden Zweifel so erhaben, dass sie, im Anschluss an eine wirklich spannende Diskussion und in Abwägung aller eingebrachten Argumente GERMAN CRIME STORY: GEFESSELT gerne im Genre des Psychothrillers das Prädikat „besonders wertvoll“ verleiht.