Freistaat Mittelpunkt
FBW-Pressetext
Dokumentarfilm über Ernst Otto Karl Grassmé, der von Nationalsozialisten interniert und zwangssterilisiert wurde und nach seiner Entlassung bis zu seinem Tod im Wald lebte.Ernst Otto Karl Grassmé war ein Opfer der nationalsozialistischen Rassenideologie. Als schizophren diagnostiziert, wurde er als an einer Erbkrankheit leidend angesehen. Um diese an ihrer Ausbreitung zu hindern, wurde er interniert und zwangssterilisiert. Nach seiner Entlassung im Jahr 1939, ein Jahr vor Beginn der Aktion T4, des Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten, ging er in den Wald. Dort überlebte und lebte er. Eine Entschuldigung hat Grassmé nie und eine Entschädigung erst kurz vor seinem Tod erhalten, obwohl er schon früh die Auseinandersetzung mit den Behörden suchte. Durch Briefe hielt er Kontakt mit der Außenwelt, teilte so seine Gedanken und sein Innenleben mit Anderen.
Der Filmemacher Kai Ehlers stellt in seinem außergewöhnlichen Dokumentarfilm FREISTAAT MITTELPUNKT diese Gedanken ins Zentrum und verbindet sie mit einer geographischen Annäherung an den Ort, an dem Grassmé lebte. Eine Wiesenlandschaft, eine junge Frau, die eine Kuh mit sich führt, eine verlassene Straße, der Wald. Die schwebende Kamera erzeugt Bilder, die subtil und doch eindringlich den Kontext für die Geschichte setzen und den Betrachter*innen Raum und Zeit geben, sich auf die Erzählungen von Grassmé einzulassen und ihn in ihrer Vorstellung lebendig werden zu lassen. Durch die Diskrepanz zwischen filmischem Raum und erzählter Zeit gelingt es Ehlers, gleichzeitig Spannung und Unbehagen zu erzeugen. Sie laden das genaue, einfühlsame und respektvolle Porträt von Ernst Otto Karl Grassmé auf mit der Frage nach dem Umgang von Gesellschaften mit ihren nicht konformen Mitgliedern. Eine kurze Super8-Sequenz am Ende des Films holt die Zuschauer*innen aus ihrer eigenen Imagination zurück in die geteilte Realität, wo die Frage ihre zeitlose Tragweite gewinnt.
Filminfos
Gattung: | Dokumentarfilm |
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Regie: | Kai Ehlers |
Drehbuch: | Kai Ehlers |
Kamera: | Kai Ehlers |
Schnitt: | Kai Ehlers |
Musik: | Chris Hirson |
Länge: | 80 Minuten |
Kinostart: | 09.09.2021 |
Produktion: | Kai Ehlers Film Kai Ehlers, Moon Jar Film |
FSK: | 16 |
Förderer: | FFHSH |
Jury-Begründung
FREISTAAT MITTELPUNKT ist in jeder Hinsicht ein ungewöhnlicher Film, sowohl was sein Thema als auch seine Form angeht. Es geht um einen Sonderling, und Regisseur Kai Ehlers hat einen Film gemacht, der auf sehr besondere Art und Weise diesem Menschen gerecht zu werden versucht. Ernst Otto Karl Grassmé war ein Opfer des Nationalsozialismus, man hat ihn als schizophren diagnostiziert, interniert und zwangssterilisiert. In der Bundesrepublik der Nachkriegszeit erlebte er nicht nur keinerlei Wiedergutmachung, sondern wurde weiter ausgegrenzt und von Behörden drangsaliert und missachtet. Ehlers erzählt jedoch von Grassmé nicht als Fallgeschichte, sondern ihm gelingt es, den Mann selbst vorzustellen, ihm eine Stimme zu verleihen, und damit dem Zuschauer einen Eindruck seines Charakters zu geben – und das über 25 Jahre nach dessen Tod. Wer sich auf den Film einlässt, auf seine nicht ganz einfache Form, wird unmittelbar berührt daraus hervorgehen.Ehlers arbeitet sehr konsequent und intuitiv mit einer Bild-Ton-Schere: Zu langen, oft in einer Einstellung gedrehten Aufnahmen eines scheinbar idyllischen Landlebens heute, von Waldwegen und flachen Äckern, lässt Ehlers aus dem Off Stellen aus Briefen von Grassmé vorlesen, die dieser der Tochter eines Nachbarn geschrieben hat. Der Tonfall der Briefe ist stets warmherzig, zugewandt, trotzdem wird nicht immer klar, um was es geht. Mit der Zeit jedoch lernt der Zuschauer die Dinge, von denen Grassmé schreibt, zuzuordnen und daraus das schwere Schicksal des von Euthanasie und Zwangssterilisation Betroffenen in Fragmenten zusammenzusetzen. Ohne je im eigentlichen Sinn zu illustrieren, evoziert Ehlers ein stimmungsvolles, geradezu sinnliches Porträt eines Mannes, der später als Eremit lebte, aber sich selbst dort noch immer wieder Einmischungen von Ämtern gefallen lassen musste.
Der Film nimmt sich Zeit für sein Porträt und macht es sich dabei nie einfach. Die assoziative Bildmontage, die wiederkehrend Szenen bäuerlichen Arbeitens oder auch einfach nur Natur zeigt, scheint zunächst ohne Verbindung zum Protagonisten, erweist sich aber mit der Zeit als effektvoll durchkomponierte Montage, die den Zuschauer emotional und kognitiv herausfordert und zu Überlegungen darüber anregt, was ein selbstbestimmtes Leben ist, und wie fehlgeleitet das "Ordnungsempfinden" manchmal sein kann, gerade wenn es um den Umgang mit jemandem geht, der ganz anders fühlt und denkt. Völlig nebenbei erzählt FREISTAAT MITTELPUNKT auch von der verhängnisvollen Kontinuität von Naziherrschaft zur Nachkriegsbundesrepublik in der behördlichen Behandlung von psychisch kranken Menschen.
Ehlers' Film berührt, weil es ihm gelingt, denjenigen, über den stets geurteilt wurde, hier selbst zu Wort kommen lassen, in all seiner Liebenswürdigkeit, seiner Schrägheit, seiner Harmlosigkeit und seiner Verzweiflung. Es ist ein schwieriger Film, der Geduld erfordert, sich aber unbedingt lohnt.