Ekstase
FBW-Pressetext
Die Frau ist hysterisch. Der Mann kommt zu Hilfe, um sie zu retten. Eine geschlechterstereotype Vorstellung, die es schon lange gibt. Und die von Ärzten und Psychologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Krankheitsbild und als „typisch weiblich“ zugeordnet wurden. Doch auch der Stummfilm benutzte die Rollenbilder der hysterischen Frau, die vor lauter Wahn zusammenbricht, um dann von Männern „gerettet“ oder aber eingesperrt und wie ein exotisches Objekt beobachtet zu werden. Die Filmemacherin Marion Kellmann hat für die Recherche zu ihrem experimentellen Kurzfilm EKSTASE über 300 Stummfilme gesichtet und aus über 70 Filmen zentrale Stellen extrahiert. In einer kunstvollen und sehr sorgsam aufbereiteten Montage verknüpft sie die sich frappierend ähnelnden und wiederholenden Darstellungen miteinander. So gelingt ihr nicht nur ein intelligenter und entlarvender Blick auf die Gender-Typisierung in Film und Gesellschaft. Sondern auch, dank einer hervorragenden musikalischen Untermalung und einem klug gesetzten Montagerhythmus ein wirklich amüsantes und kurzweiliges Filmerlebnis.Filminfos
Gattung: | Experimentalfilm; Kurzfilm |
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Regie: | Marion Kellmann |
Drehbuch: | Marion Kellmann |
Schnitt: | Marion Kellmann |
Musik: | Dascha Dauenhauer |
Länge: | 11 Minuten |
Produktion: | Marion Kellmann |
Förderer: | Film- und Medienstiftung NRW |
Jury-Begründung
Tausende vermeintliche Hysterikerinnen wurden im 19. Jahrhundert in die neu entstandenen Nervenheilanstalten und Krankenhäuser Europas eingeliefert. Hysterie wurde eine „Modekrankheit“ und zur Frauenkrankheit schlechthin deklariert. Die öffentlichen Vorführungen junger „hysterischer“ Patientinnen durch den Neurologen Jean-Martin Charcot in der Salpetrière in Paris wurden nicht nur von Ärzten (u.a. Sigmund Freud), sondern auch von Schriftstellern, Schauspielerinnen (z.B. Sarah Bernhardt) und Künstlern besucht. Sie wurden zudem minutiös fotografiert, im Glauben, man könne über das Lesen von Physiognomien eine visuelle Grammatik des Wahnsinns erstellen. Gestische Symptome wie Spasmen, Schüttelkrämpfe, Ekstasen, Delirien bis zur Bewusstlosigkeit hielten Einzug in die kulturelle Ikonographie weiblicher Körpersprache. So auch in den Stummfilm.Marion Kellmann interessiert sich für das Stereotyp der Frau am Rande des Wahnsinns und des Mannes, der versucht, dieses Mysterium zu ergründen. Mit Aufwand und Ausdauer hat die Regisseurin 300 Stummfilme in fünf europäischen Filmarchiven gesichtet, schließlich Ausschnitte aus über 70 Filmen aus den Jahren 1907 bis 1932 gewählt. Herausgekommen ist ein visuell vielseitiges und dramaturgisch intelligent gestaltetes Filmessay. Kaum zu glauben, welche Fülle von Szenen in 11 Minuten unterzubringen sind.
Die Montage folgt der Choreographie eines Bogens. Frauen wachen auf, erschrecken, bekommen Panik, Männer blicken erstaunt, gefährlich, verärgert. Frauen fallen in Ohnmacht, Männer nehmen sie auf wie Wasserleichen, legen sie ab auf Kanapees, Betten und Sofas. Betasten, sie, hypnotisieren sie, legen Hand auf. Frauen bekommen Anfälle, scheinen besessen, Männer legen sie ins Bett. Frauen schlafen wieder ein. Geschnitten im rhythmischen Wechsel von Bewegung und Ruhe, Auf- und Abschwellen der Handlung. Die durch die Aneinanderreihung erzeigte Fast-Serialität der Szenen lenkt den Blick auf die Kontrapunktik der Inszenierung von Frauen und Männern. Das Fließen, Wogen und Erschrecken der oft leicht bekleideten weiblichen Protagonistinnen kontrastiert mit der eher statuarischen, gefassten und zugeknöpften Haltung der männlichen Protagonisten. Dazu orchestriert die kongeniale Filmusik von Dascha Dauenhauer den Gefühlsbogen des Film auf wunderbare Weise.
Bei EKSTASE handelt es sich um eine amüsante filmhistorische Schule des Sehens, ein Crashkurs durch den Stummfilm, – natürlich in schwarz-weiss - der auch die Komik eines vormals ernst gemeinten Pathos deutlich macht.