Der Kandidat

Kinostart: 18.04.80
1980
Filmplakat: Der Kandidat

Jurybegründung

Der Film erhielt nach sehr eingehender Diskussion - auch kontroverser Standpunkte - mit 3:1 Stimmen das höchste Prädikat.



Gemäß § 6 Abs. 4 VA-FBW war der Bewertungsausschuss gehalten, sich in der Beurteilung des Films nicht von persönlichen politischen Auffassungen und Überzeugungen leiten zu lassen, sondern allein filmästhetische Maßstäbe geltend zu machen. Dieser Film, der politische Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland dokumentarisch unmittelbar abhandelt, ohne sich in die Verschlüsselung einer Parabel oder einer Fiktion zu flüchten, trifft jedoch durch die faktische Wucht des verwendeten dokumentarischen Materials die vielschichtigen politischen Erfahrungen jedes einzelnen Gutachters - gesammelt während eines langen Zeitraums engagiert erlebter Nachkriegsgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland - bis zur Grenze der Verletzlichkeit. Es erhob sich daher die Grundsatzfrage, ob ein Film dieser Art überhaupt in der üblichen Weise beurteilt werden kann und ob die persönliche Betroffenheit der Gutachter sich auf eine rein formal-ästhetische Ebene der Begutachtung abstrahieren ließe. Trotz der vorgegebenen Konfliktsituation wurde diese Frage bejaht. Der Verlauf der Diskussion zeigte die aufrichtige Bemühung, dieser Aufgabe gerecht zu werden.



Der Kinofilm des Autorenkollektivs hat sich eines realen Sujets bemächtigt, das normalerweise dem Fernsehen überlassen ist. Er macht Gegenwart zur "Geschichte". Er schildert die politische Karriere des Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß: als Parteiführer der CSU, in Bonn unter Adenauer, seine Verantwortlichkeiten als Sonder-, Atom- und dann als Verteidigungsminister; er schildert die weitreichenden und verflochtenen Konsequenzen vieler seiner Entscheidungen, die Konfliktsituationen, durch die er ins Schussfeld kam (z.B. Spiegelaffäre, Fibagaffäre, Starfighterrüstung) und die schließlich mit zu seinem Rückzug aus der ministerialen Verantwortung beigetragen haben; er zeigt das Wirken des Parteiführers der CSU, des Oppositionspolitikers in Bonn, schließlich den Kandidaten der CDU/CSU für das im Jahr 1980 zur Wahl stehende Amt des Bundeskanzlers.



Das filmische Porträt eines unserer bekanntesten Politikers also, hineingestellt in die Zeit der Wahlkampfpolemik. Ein Porträt mit ungeschönten Zügen, voller Widersprüche, polemisch gesehen, nicht auf Schonung bedacht. Der Film ist nicht nur das Porträt eines Politikers. Die Karriere des "Kandidaten" erscheint vor dem immer wieder eindrucksvoll ins Bild geholten Hintergrund der deutschen Geschichte seit 1945. Erfahrungen werden deutlich, die sein, die unser aller politisches Denken traumatisch geprägt haben und den Wunsch nach alternativen Formen des staatlichen Zusammenlebens bestimmten. Es sind Erfahrungen, die sich auch im Umgang mit Macht, in der Ausübung von Macht noch zeigen. Sichtbar wird ein Land, dem es noch immer schwerfällt, die Demokratie zu erlernen, sie zu handhaben. Sichtbar werden große, oft utopisch anmutende Anstrengungen. Sichtbar werden auch merkwürdige Resignationen und Protestbewegungen. Sichtbar werden Aufenthalte, Stagnationen, Umwege, Rückschritte und immer wieder neu formulierte Hoffnungen. Was man zu sehen bekommt: es macht betroffen, ruft Bestürzung hervor. So gesehen ist der Film ein Beitrag zur deutschen Geschichte, zur deutschen Gegenwart, in die hinein das Geschehene sich fortsetzt, in die hinein es sich kristallisiert. Der Kandidat und die Menschen, die er anspricht: sie bedingen einander. Diese weitreichende Bedeutung des filmischen Anspruchs wurde vom Bewertungsausschuss zur Grundlage seiner Diskussion erhoben.



Der Film will in Erinnerung rufen. Fast schon Vergessenes taucht in den verwendeten Filmdokumenten auf, steht mit der ganzen Wucht des Dokumentarischen vor Augen, weist auf Zusammenhänge mit dem Heute hin. Ein Film, der weitverzweigte Entwicklungen sichtbar macht. Ein Film, der hellhörig, misstrauisch, kritisch macht: Worten, Begriffen, Parolen, Gesten, Appellen gegenüber. Der Film hinterfragt mehr und grundsätzlicher, als er vielleicht selbst zugibt. Ein Film des Protestes, nicht der Bestätigung. Ein Film, dem durchgehend der Zorn und Unmut des Autorenkollektivs anzumerken ist über den Widerspruch von (vielleicht utopischem) Anspruch der Demokratie und ihrer realen Erscheinungsform in einem Land, das im Brennpunkt übergreifender internationaler Machtkonfrontationen steht.



Der Film warnt vor einer Spielart deutschen Denkens, die der Kandidat durch die Konsequenz seines Lebens für die Politik verkörpert. Mit dieser Warnung nimmt das Autorenkollektiv eindeutig und einseitig Partei. Es bedient sich dabei - und das mit außerordentlicher Konsequenz - pamphletistischer Stilmittel. Das in Archiven erhaltene, öffentlich zugängige dokumentarische Filmmaterial, aus dem der Film zum weitaus größten Teil zusammengestellt ist, wurde im Sinne des vorgegebenen kritischen Ansatzes gesichtet, ausgewählt, montiert und durch Stimmungsbilder, Zwischentitel, Trickfilmteile, gesprochenen und gezeigten Kommentar ergänzt. Auch die unterlegte Musik ist inhaltlich genau abgestimmt und hat kritisch-ironische Funktion. So entstand eine filmische "Streitschrift" mit konsequent durchgehaltener Tendenz, dargeboten in einer Filmdramaturgie, die aussagekräftig auf das politische Thema bezogen bleibt und dabei ästhetischen Maßstäben von außergewöhnlicher Stringenz unterliegt. Bei näherer Hinsicht erweist sie sich auch dort noch als konsequent, wo sie zunächst divergierend oder aufgesetzt erscheint (Beispiel: Trickfilmsequenzen aus der deutschen Geschichte und nach dem Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein; sie sind eine bewusst vereinfachte, plakativ formulierte "Moral von der Geschicht'" nach dem Modell jeder klassischen Lehrfabel).



Gleichwohl ergaben sich aus der pamphletistischen Konsequenz, mit der dieser Film gemacht wurde, kontroverse Diskussionsmeinungen. Ein Teil der Begutachter war der Auffassung, das Autorenkollektiv hätte besser daran getan, das Dokumentarmaterial für sich sprechen zu lassen. Es biete hinreichend Anlass für kritische Stellungnahmen der Betrachter. Der polemische Ansatz verdeutliche sich zudem in der Art, wie das Dokumentarmaterial einander zugeordnet sei. Auf Trickfilm-Einschübe, auf die plakative "Moral von der Geschicht'", auf den oft überbetont ironisch-polemischen Ton des gesprochenen Kommentars hätte man verzichten können. Wenn überhaupt Kommentar, dann in sachlicher, auf das unbedingt Notwendige beschränkter Form. Dem wurde entgegengehalten, dass gerade die polemisch-ironische Art der gesprochenen Kommentare und die nichtdokumentarischen Einschübe jedem Betrachter unmissverständlich das ästhetische Stilprinzip der Dokumentar-Montage und den pamphletischen Ansatz der Filmemacher besonders deutlich mache: die Subjektivität, mit der sie objektives Material zur Schau stellen, die artifizielle Verarbeitung von Ereignissen, die real waren. Eben weil das Prinzip der artifiziellen Montage zu einem klar erkennbaren polemischen Zweck stets für den Betrachter durchschaubar bleibe, verliere der Film einen sonst leichter zu unterstellenden demagogischen Charakter. Der Film erscheine durchgehend als eine persönliche Stellungnahme, gewonnen aus der Sichtung objektiven Materials. Dem Betrachter bleibe es unbenommen, diese Stellungnahme zu teilen oder nicht.



Eingehend wurde darüber diskutiert, ob nicht die Art der Auswahl des öffentlich zugänglichen Dokumentarmaterials unter dem Aspekt einer pamphletischen Tendenz zu einseitig, zu manipuliert, erscheine und ob dem Film daher die Seriosität abzusprechen sei, die er benötige, um zu überzeugen. Diese Frage stellte sich auch angesichts der despektierlich berichtenden Bilder von der Gründungsversammlung der "Grünen", Bildsequenzen, die einem Teil des Ausschusses nicht in einem unbedingt ursächlichen Zusammenhang mit dem Thema zu stehen schienen. Entgegengehalten wurde, dass eben diese Bilder die Frage nach der Funktionsfähigkeit einer alternativen vierten Partei artikulieren und dadurch sehr wohl den Zusammenhang zum weitläufigen Thema des ganzen Films erkennen lassen. Auch wurde betont, dass sich viele der sogenannten "Dokumentarstücke" (Peter Weiss, Rolf Hochhuth u.a.) ähnlich manipulierender Stilprinzipien der Auswahl und der Montage bedienen. Entscheidend für die Beurteilung ihrer Qualität seien: 1. die Stimmigkeit des verwendeten Dokumentarmaterials; 2. die künstlerische Konsequenz, mit der dieses Material einander zugeordnet, mit der es verarbeitet werde. Überpointierung gehöre dabei zum Wesen der Polemik, Schmähung des Widerparts zum Wesen der pamphletistischen Kunstform. Im vorliegenden Fall sei noch zu bedenken, dass vielschichtige Ereignisse und langfristig verlaufende Entwicklungen in der Geschichte eines Landes und einer politischen Persönlichkeit in dem zeitlich sehr begrenzten Kunstwerk Film gleichsam auf Punkt und Nenner gebracht werden müssen. Auch diesem Stilzwang dienen die Auswahl, die Bildform, die Sprachform und die subjektive Montage des verwendeten Dokumentarmaterials und alle nicht dokumentarischen Zusätze (Kommentar, Zwischentitel, Musik, Stimmungsbilder, Trickfilmsequenzen). Gerade von daher gesehen hat dieser Film, für den es noch kaum vergleichbare Vorbilder gibt, eine formal-ästhetische Geschlossenheit von hoher Qualität und Eindringlichkeit. Eben weil vergleichbare Vorbilder fehlen, ist der Film auch unter dem Aspekt der Innovation zu sehen. Das gibt ihm zusätzlich Besonderheit und herausragende Bedeutung.



Diskutiert wurde, ob vom erzieherischen Standpunkt her die pamphletistische Polemik nicht möglicherweise negative Auswirkungen habe. Sind die zwangsläufigen Vereinfachungen und Vergröberungen, mit denen diese Methode prinzipiell arbeitet, um den Widerpart zu verkleinern, anzugreifen und zu schmähen, nicht letztlich a-human? Entgegengehalten wurde, dass eben diese im Prinzip anfechtbare Methode der Schmähung nicht zuletzt aus dem hier gezeigten Dokumentarmaterial selbst immer wieder durchschlage: in den Kampfreden des Kandidaten, in der Art seiner plakativen Argumentationen gegen politische Kontrahenten. Pamphletistische Polemik ist als Stilprinzip politischer Debatten nachweisbar von der Antike bis zum heutigen Tag. In allen politischen Macht- und Standpunktkämpfen schlägt es durch. Persönlichkeit, Temperament, Geist und Eloquenz des jeweiligen Politikers bestimmen allerdings die Form, die Schärfe, das Maß der jeweiligen Polemik. Warum sollte ausgerechnet der Film sich auf den neutralen Boden behutsamer "Wohlanständigkeit" zurückziehen und die Realität politischer Praktiken "verschönen"? Auch wurde entgegengehalten, dass ja das Dokumentarmaterial in sich sehr vielschichtige Aspekte vermittele, oft noch in unbedachten kleinen Gesten. So einseitig und überpointiert jede einzelne Sequenz für sich auch erscheinen mag: die Summe der vielschichtigen Aspekte lässt doch ein wirklich komplexes Bild der politischen Wirklichkeit und der Persönlichkeit entstehen. Ein Bild, das, ungeachtet aller Polemik, doch redlich dem Zwecke dient, im Betrachter das kritische Bewusstsein für politische Zusammenhänge zu fördern: für die Spielarten der Macht, für Konstellationen von Macht, für Bedingungen von Karrieren, für Entscheidungen und deren Folgen, für die Bedeutung von Geschichte für das heutige Geschehen, für die Zusammenhänge von Worten und Taten, aber auch für die Folgen aus Zustimmung, Verweigerung oder Gleichgültigkeit, Unwissenheit, Resignation, und für den Zusammenhang von Wunschträumen und fanatisierenden Angeboten, die solchen Träumen entsprechen. Ausübung von Macht, so zeigt der Film, stützt sich letztlich auf das Verhalten jedes Einzelnen. Indem er auf alles dies verweist, erhält der Film eine weitreichende politische Bedeutung. Sie geht über die Polemik am Kandidaten hinaus. Der Film wird zu einem eindringlichen, oft erschreckenden Lehrstück über die politische Wirklichkeit in Deutschland. Seine konkreten wie utopischen Aspekte (z.B. Gründungsversammlung der "Grünen" in Karlsruhe) fordern zum Nachdenken, zu persönlichen Entscheidungen heraus.



Der Film erreicht seine Wirkung durch die Konsequenz seiner Machart, seiner artifiziell angewandten Stilmittel. Auch heterogene Dokumentationen aus verschiedenen Zeiten und von sehr unterschiedlicher technischer Bildqualität wurden ebenso geschickt zum Ganzen zusammengefasst, wie die Filmbestandteile, die aus der Arbeit von mehreren Autoren hervorgingen, die in ihrem jeweiligen film-ästhetischen Ansatz sonst divergieren.



(Im Kommentar sollte korrigierend erwähnt werden, dass eine Bildsequenz aus einer Rede des Kandidaten nicht mit seinen eigenen Worten synchronisiert wurde, sondern mit einer Parodie von Loriot.)



In Abwägung aller Diskussionsgesichtspunkte ergab sich das abschließende Stimmenverhältnis von 3:1 für das höchste Prädikat. Diese Prädikatisierung spiegelt zugleich das Vertrauen der Begutachter auf die Tragfähigkeit unserer Demokratie.



Hans Joachim Schaefer

Rainer Schirra

Hilmar Hoffmann

Wolfgang Brudny
Prädikat besonders wertvoll

Filminfos

Kategorie:Spielfilm
Gattung:Dokumentarfilm
Regie:Volker Schlöndorff; Stefan Aust; Alexander von Eschwege; Alexander Kluge
Drehbuch:Alexander Kluge; Volker Schlöndorff; Stefan Aust; Alexander von Eschwege
Länge:129 Minuten
Kinostart:18.04.1980
Verleih:Filmverlag der Autoren
Produktion: , Odysee-Film, SWR
FSK:6

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Der Film erhielt nach sehr eingehender Diskussion - auch kontroverser Standpunkte - mit 3:1 Stimmen das höchste Prädikat.

Gemäß § 6 Abs. 4 VA-FBW war der Bewertungsausschuss gehalten, sich in der Beurteilung des Films nicht von persönlichen politischen Auffassungen und Überzeugungen leiten zu lassen, sondern allein filmästhetische Maßstäbe geltend zu machen. Dieser Film, der politische Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland dokumentarisch unmittelbar abhandelt, ohne sich in die Verschlüsselung einer Parabel oder einer Fiktion zu flüchten, trifft jedoch durch die faktische Wucht des verwendeten dokumentarischen Materials die vielschichtigen politischen Erfahrungen jedes einzelnen Gutachters - gesammelt während eines langen Zeitraums engagiert erlebter Nachkriegsgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland - bis zur Grenze der Verletzlichkeit. Es erhob sich daher die Grundsatzfrage, ob ein Film dieser Art überhaupt in der üblichen Weise beurteilt werden kann und ob die persönliche Betroffenheit der Gutachter sich auf eine rein formal-ästhetische Ebene der Begutachtung abstrahieren ließe. Trotz der vorgegebenen Konfliktsituation wurde diese Frage bejaht. Der Verlauf der Diskussion zeigte die aufrichtige Bemühung, dieser Aufgabe gerecht zu werden.

Der Kinofilm des Autorenkollektivs hat sich eines realen Sujets bemächtigt, das normalerweise dem Fernsehen überlassen ist. Er macht Gegenwart zur "Geschichte". Er schildert die politische Karriere des Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß: als Parteiführer der CSU, in Bonn unter Adenauer, seine Verantwortlichkeiten als Sonder-, Atom- und dann als Verteidigungsminister; er schildert die weitreichenden und verflochtenen Konsequenzen vieler seiner Entscheidungen, die Konfliktsituationen, durch die er ins Schussfeld kam (z.B. Spiegelaffäre, Fibagaffäre, Starfighterrüstung) und die schließlich mit zu seinem Rückzug aus der ministerialen Verantwortung beigetragen haben; er zeigt das Wirken des Parteiführers der CSU, des Oppositionspolitikers in Bonn, schließlich den Kandidaten der CDU/CSU für das im Jahr 1980 zur Wahl stehende Amt des Bundeskanzlers.

Das filmische Porträt eines unserer bekanntesten Politikers also, hineingestellt in die Zeit der Wahlkampfpolemik. Ein Porträt mit ungeschönten Zügen, voller Widersprüche, polemisch gesehen, nicht auf Schonung bedacht. Der Film ist nicht nur das Porträt eines Politikers. Die Karriere des "Kandidaten" erscheint vor dem immer wieder eindrucksvoll ins Bild geholten Hintergrund der deutschen Geschichte seit 1945. Erfahrungen werden deutlich, die sein, die unser aller politisches Denken traumatisch geprägt haben und den Wunsch nach alternativen Formen des staatlichen Zusammenlebens bestimmten. Es sind Erfahrungen, die sich auch im Umgang mit Macht, in der Ausübung von Macht noch zeigen. Sichtbar wird ein Land, dem es noch immer schwerfällt, die Demokratie zu erlernen, sie zu handhaben. Sichtbar werden große, oft utopisch anmutende Anstrengungen. Sichtbar werden auch merkwürdige Resignationen und Protestbewegungen. Sichtbar werden Aufenthalte, Stagnationen, Umwege, Rückschritte und immer wieder neu formulierte Hoffnungen. Was man zu sehen bekommt: es macht betroffen, ruft Bestürzung hervor. So gesehen ist der Film ein Beitrag zur deutschen Geschichte, zur deutschen Gegenwart, in die hinein das Geschehene sich fortsetzt, in die hinein es sich kristallisiert. Der Kandidat und die Menschen, die er anspricht: sie bedingen einander. Diese weitreichende Bedeutung des filmischen Anspruchs wurde vom Bewertungsausschuss zur Grundlage seiner Diskussion erhoben.

Der Film will in Erinnerung rufen. Fast schon Vergessenes taucht in den verwendeten Filmdokumenten auf, steht mit der ganzen Wucht des Dokumentarischen vor Augen, weist auf Zusammenhänge mit dem Heute hin. Ein Film, der weitverzweigte Entwicklungen sichtbar macht. Ein Film, der hellhörig, misstrauisch, kritisch macht: Worten, Begriffen, Parolen, Gesten, Appellen gegenüber. Der Film hinterfragt mehr und grundsätzlicher, als er vielleicht selbst zugibt. Ein Film des Protestes, nicht der Bestätigung. Ein Film, dem durchgehend der Zorn und Unmut des Autorenkollektivs anzumerken ist über den Widerspruch von (vielleicht utopischem) Anspruch der Demokratie und ihrer realen Erscheinungsform in einem Land, das im Brennpunkt übergreifender internationaler Machtkonfrontationen steht.

Der Film warnt vor einer Spielart deutschen Denkens, die der Kandidat durch die Konsequenz seines Lebens für die Politik verkörpert. Mit dieser Warnung nimmt das Autorenkollektiv eindeutig und einseitig Partei. Es bedient sich dabei - und das mit außerordentlicher Konsequenz - pamphletistischer Stilmittel. Das in Archiven erhaltene, öffentlich zugängige dokumentarische Filmmaterial, aus dem der Film zum weitaus größten Teil zusammengestellt ist, wurde im Sinne des vorgegebenen kritischen Ansatzes gesichtet, ausgewählt, montiert und durch Stimmungsbilder, Zwischentitel, Trickfilmteile, gesprochenen und gezeigten Kommentar ergänzt. Auch die unterlegte Musik ist inhaltlich genau abgestimmt und hat kritisch-ironische Funktion. So entstand eine filmische "Streitschrift" mit konsequent durchgehaltener Tendenz, dargeboten in einer Filmdramaturgie, die aussagekräftig auf das politische Thema bezogen bleibt und dabei ästhetischen Maßstäben von außergewöhnlicher Stringenz unterliegt. Bei näherer Hinsicht erweist sie sich auch dort noch als konsequent, wo sie zunächst divergierend oder aufgesetzt erscheint (Beispiel: Trickfilmsequenzen aus der deutschen Geschichte und nach dem Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein; sie sind eine bewusst vereinfachte, plakativ formulierte "Moral von der Geschicht'" nach dem Modell jeder klassischen Lehrfabel).

Gleichwohl ergaben sich aus der pamphletistischen Konsequenz, mit der dieser Film gemacht wurde, kontroverse Diskussionsmeinungen. Ein Teil der Begutachter war der Auffassung, das Autorenkollektiv hätte besser daran getan, das Dokumentarmaterial für sich sprechen zu lassen. Es biete hinreichend Anlass für kritische Stellungnahmen der Betrachter. Der polemische Ansatz verdeutliche sich zudem in der Art, wie das Dokumentarmaterial einander zugeordnet sei. Auf Trickfilm-Einschübe, auf die plakative "Moral von der Geschicht'", auf den oft überbetont ironisch-polemischen Ton des gesprochenen Kommentars hätte man verzichten können. Wenn überhaupt Kommentar, dann in sachlicher, auf das unbedingt Notwendige beschränkter Form. Dem wurde entgegengehalten, dass gerade die polemisch-ironische Art der gesprochenen Kommentare und die nichtdokumentarischen Einschübe jedem Betrachter unmissverständlich das ästhetische Stilprinzip der Dokumentar-Montage und den pamphletischen Ansatz der Filmemacher besonders deutlich mache: die Subjektivität, mit der sie objektives Material zur Schau stellen, die artifizielle Verarbeitung von Ereignissen, die real waren. Eben weil das Prinzip der artifiziellen Montage zu einem klar erkennbaren polemischen Zweck stets für den Betrachter durchschaubar bleibe, verliere der Film einen sonst leichter zu unterstellenden demagogischen Charakter. Der Film erscheine durchgehend als eine persönliche Stellungnahme, gewonnen aus der Sichtung objektiven Materials. Dem Betrachter bleibe es unbenommen, diese Stellungnahme zu teilen oder nicht.

Eingehend wurde darüber diskutiert, ob nicht die Art der Auswahl des öffentlich zugänglichen Dokumentarmaterials unter dem Aspekt einer pamphletischen Tendenz zu einseitig, zu manipuliert, erscheine und ob dem Film daher die Seriosität abzusprechen sei, die er benötige, um zu überzeugen. Diese Frage stellte sich auch angesichts der despektierlich berichtenden Bilder von der Gründungsversammlung der "Grünen", Bildsequenzen, die einem Teil des Ausschusses nicht in einem unbedingt ursächlichen Zusammenhang mit dem Thema zu stehen schienen. Entgegengehalten wurde, dass eben diese Bilder die Frage nach der Funktionsfähigkeit einer alternativen vierten Partei artikulieren und dadurch sehr wohl den Zusammenhang zum weitläufigen Thema des ganzen Films erkennen lassen. Auch wurde betont, dass sich viele der sogenannten "Dokumentarstücke" (Peter Weiss, Rolf Hochhuth u.a.) ähnlich manipulierender Stilprinzipien der Auswahl und der Montage bedienen. Entscheidend für die Beurteilung ihrer Qualität seien: 1. die Stimmigkeit des verwendeten Dokumentarmaterials; 2. die künstlerische Konsequenz, mit der dieses Material einander zugeordnet, mit der es verarbeitet werde. Überpointierung gehöre dabei zum Wesen der Polemik, Schmähung des Widerparts zum Wesen der pamphletistischen Kunstform. Im vorliegenden Fall sei noch zu bedenken, dass vielschichtige Ereignisse und langfristig verlaufende Entwicklungen in der Geschichte eines Landes und einer politischen Persönlichkeit in dem zeitlich sehr begrenzten Kunstwerk Film gleichsam auf Punkt und Nenner gebracht werden müssen. Auch diesem Stilzwang dienen die Auswahl, die Bildform, die Sprachform und die subjektive Montage des verwendeten Dokumentarmaterials und alle nicht dokumentarischen Zusätze (Kommentar, Zwischentitel, Musik, Stimmungsbilder, Trickfilmsequenzen). Gerade von daher gesehen hat dieser Film, für den es noch kaum vergleichbare Vorbilder gibt, eine formal-ästhetische Geschlossenheit von hoher Qualität und Eindringlichkeit. Eben weil vergleichbare Vorbilder fehlen, ist der Film auch unter dem Aspekt der Innovation zu sehen. Das gibt ihm zusätzlich Besonderheit und herausragende Bedeutung.

Diskutiert wurde, ob vom erzieherischen Standpunkt her die pamphletistische Polemik nicht möglicherweise negative Auswirkungen habe. Sind die zwangsläufigen Vereinfachungen und Vergröberungen, mit denen diese Methode prinzipiell arbeitet, um den Widerpart zu verkleinern, anzugreifen und zu schmähen, nicht letztlich a-human? Entgegengehalten wurde, dass eben diese im Prinzip anfechtbare Methode der Schmähung nicht zuletzt aus dem hier gezeigten Dokumentarmaterial selbst immer wieder durchschlage: in den Kampfreden des Kandidaten, in der Art seiner plakativen Argumentationen gegen politische Kontrahenten. Pamphletistische Polemik ist als Stilprinzip politischer Debatten nachweisbar von der Antike bis zum heutigen Tag. In allen politischen Macht- und Standpunktkämpfen schlägt es durch. Persönlichkeit, Temperament, Geist und Eloquenz des jeweiligen Politikers bestimmen allerdings die Form, die Schärfe, das Maß der jeweiligen Polemik. Warum sollte ausgerechnet der Film sich auf den neutralen Boden behutsamer "Wohlanständigkeit" zurückziehen und die Realität politischer Praktiken "verschönen"? Auch wurde entgegengehalten, dass ja das Dokumentarmaterial in sich sehr vielschichtige Aspekte vermittele, oft noch in unbedachten kleinen Gesten. So einseitig und überpointiert jede einzelne Sequenz für sich auch erscheinen mag: die Summe der vielschichtigen Aspekte lässt doch ein wirklich komplexes Bild der politischen Wirklichkeit und der Persönlichkeit entstehen. Ein Bild, das, ungeachtet aller Polemik, doch redlich dem Zwecke dient, im Betrachter das kritische Bewusstsein für politische Zusammenhänge zu fördern: für die Spielarten der Macht, für Konstellationen von Macht, für Bedingungen von Karrieren, für Entscheidungen und deren Folgen, für die Bedeutung von Geschichte für das heutige Geschehen, für die Zusammenhänge von Worten und Taten, aber auch für die Folgen aus Zustimmung, Verweigerung oder Gleichgültigkeit, Unwissenheit, Resignation, und für den Zusammenhang von Wunschträumen und fanatisierenden Angeboten, die solchen Träumen entsprechen. Ausübung von Macht, so zeigt der Film, stützt sich letztlich auf das Verhalten jedes Einzelnen. Indem er auf alles dies verweist, erhält der Film eine weitreichende politische Bedeutung. Sie geht über die Polemik am Kandidaten hinaus. Der Film wird zu einem eindringlichen, oft erschreckenden Lehrstück über die politische Wirklichkeit in Deutschland. Seine konkreten wie utopischen Aspekte (z.B. Gründungsversammlung der "Grünen" in Karlsruhe) fordern zum Nachdenken, zu persönlichen Entscheidungen heraus.

Der Film erreicht seine Wirkung durch die Konsequenz seiner Machart, seiner artifiziell angewandten Stilmittel. Auch heterogene Dokumentationen aus verschiedenen Zeiten und von sehr unterschiedlicher technischer Bildqualität wurden ebenso geschickt zum Ganzen zusammengefasst, wie die Filmbestandteile, die aus der Arbeit von mehreren Autoren hervorgingen, die in ihrem jeweiligen film-ästhetischen Ansatz sonst divergieren.

(Im Kommentar sollte korrigierend erwähnt werden, dass eine Bildsequenz aus einer Rede des Kandidaten nicht mit seinen eigenen Worten synchronisiert wurde, sondern mit einer Parodie von Loriot.)

In Abwägung aller Diskussionsgesichtspunkte ergab sich das abschließende Stimmenverhältnis von 3:1 für das höchste Prädikat. Diese Prädikatisierung spiegelt zugleich das Vertrauen der Begutachter auf die Tragfähigkeit unserer Demokratie.

Hans Joachim Schaefer
Rainer Schirra
Hilmar Hoffmann
Wolfgang Brudny