Das kostbarste aller Güter

Kinostart: 06.03.25
2024
Filmplakat: Das kostbarste aller Güter

FBW-Pressetext

Als Graphic Novel erzählt der neue Film von Michel Hazanavicius die märchenhafte Geschichte eines kleinen Mädchens, das als Baby aus einem Zug geworfen und von einer gütigen Frau gerettet und aufgenommen wird. Ein künstlerisch herausragender und tief bewegender Film über die rettende Kraft der Menschlichkeit.

Es war einmal eine gütige, gläubige Frau, die in ärmlichen Verhältnissen mit ihrem Mann, dem Holzfäller, in einer Hütte lebte. Eines Tages, als der Schnee in dicken Flocken vom Himmel fiel, kam ein Zug vorbei, so wie jeden Tag. Aus dem Zug wurde ein Bündel geworfen. Darin eingebettet lag ein Baby. Die Frau, die sich nichts sehnlicher wünschte als ein Kind, glaubte an ein Wunder und nahm das Baby bei sich auf, gegen den Willen ihres Mannes. Denn es war die Zeit des Krieges und die Menschen in den Zügen waren die angeblichen „Feinde“ der rechtschaffenen Bürger – und das Ziel ihrer Reise war der sichere Tod.

Der Regisseur Michel Hazanavicius erzählt die Geschichte nach der gleichnamigen Buchvorlage von Jean-Claude Grumberg als eine wunderschöne animierte Graphic Novel im Stil eines Märchens. Als Erzähler fungiert der großartige Jürgen Prochnow (im Original Jean Louis Trintignant), der einlädt in ein Tableau der Bilder, die märchenhaft wirken, aber doch unglaublich viel Wahrhaftigkeit in sich tragen. Die Geschichte spielt im Zweiten Weltkrieg und Hazanavicius erzählt parallel von Handlungssträngen, die sich gegenseitig bedingen und in einem dramatisch-berührenden Schlussmoment aufeinander zulaufen: Die Handlung rund um das kleine Kind und seine aufopfernde Pflegemutter und das Schicksal eines Mannes, der in ein Konzentrationslager geschickt wird. Die Dialoge sind reduziert, aber zum Verständnis der geschilderten Ereignisse auch nicht nötig. Die Farbigkeit der Bilder wirkt eher zurückhaltend, Braun- und Grautöne dominieren und das Spiel mit Schärfe und Unschärfe lenkt immer wieder den Blick auf kleine wichtige Details im Bild. Im Zusammenspiel aller Gewerke – eine rhythmische Montage, ein gefühlvoller Score, eine kluge Dramaturgie - vermittelt der Film mit einem genauen Gespür für Atmosphäre immer ein konkretes Gefühl für die jeweilige Situation, vermittelt die Kälte des Waldes, die Kargheit der Hütte, die Nähe und Allgegenwärtigkeit des Todes innerhalb des Lagers. Durch seine zeitlose und zielgruppenübergreifende humanistische Botschaft eignet sich der Film auch und gerade für ein jüngeres Publikum, das hier einen sehr menschlichen Zugang zu einem komplexen Thema finden kann. Mit DAS KOSTBARSTE ALLER GÜTER gelingt Michel Hazanavicius ein Märchen und Historiendrama gleichermaßen. Ein Film, der von einem der dunkelsten Kapitel in der Geschichte Europas erzählt, in dem ein beispielloses Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschehen konnte, weil Menschen es zugelassen haben. Und in dem die Güte und Menschlichkeit Einzelner sich immer wieder dagegengestellt haben. Eine bessere Mahnung an das, was gerade in Europa und der Welt passiert, kann es in filmischer Hinsicht nicht geben.

Filminfos

Gattung:Animationsfilm; Drama
Regie:Michel Hazanavicius
Drehbuch:Michel Hazanavicius
Buchvorlage:Jean-Claude Grumberg
Kamera:Julien Grande (Animation)
Schnitt:Laurent Pelé-Piovani
Musik:Alexandre Desplat
Länge:81 Minuten
Kinostart:06.03.2025
Verleih:Studiocanal
Produktion: Agat Films & Cie, Ex Nihilo; Les Compagnons du Cinéma; StudioCanal; France 3 Cinéma; Les Films du Fleuve, RTBF - Radio Télévision Belge Francophone; Voo, Be TV;

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Die FBW-Jury hat dem Film das Prädikat besonders wertvoll verliehen.
Oscar-Preisträger Michel Hazanavicius begibt sich auf das Terrain der Graphic Novel, um im Stil des Märchens eine Geschichte über die Verbrechen im Holocaust zu erzählen. Dabei entsteht sowohl auf der Bild- als auch auf der Textebene ein großartiges Filmkunstwerk, das klug in seiner Ausgewogenheit förmlich auffaltet, dass Menschen einander furchtbare Grausamkeiten, aber auch unzerstörbare Liebe angedeihen lassen können.
Die Geschichte um „das kostbarste aller Güter“ beginnt wie ein klassisches Märchen: „Es war einmal ein armer Holzfäller, der lebte mit seiner Frau in einer kleinen Hütte im Wald…“, wir lauschen noch einmal der warmen, weichen Stimme des unvergessenen Jean-Louis Trintignant, der als Erzähler fungiert und damit zum großen Hörerlebnis beiträgt. Bereits im ersten Bild werden wir in das Setting eines Perrault’schen Märchen gezogen, von denen die meisten sehr dramatische und oft auch traurige, düstere Begebenheiten erzählen. Dann wechselt das Bild. Wir betreten in einem tief verschneiten Wald das Holzhäuschen dieser armen Leute, ohne dass eine konkrete Verortung stattfindet. Das betagte Ehepaar hat sich abgefunden mit der harten Lebensrealität in einer Kriegszeit, ohne Kinder, die sich kümmern und ohne die Liebe und Fürsorge, die Eltern geben könnten. Einzig die Frau betet, auch ohne Verankerung in einer bestimmten Religion, zu den Göttern, sie mögen aus den Güterzügen, die mehrfach am Tag durch den Wald fahren, eine Ware werfen, die das Leben erträglicher macht und ihr Elend beendet. Eines Tages fällt aus einem der Züge ein kleines Mädchen in den Schnee, gehüllt in ein fein gewebtes Tuch mit goldenen Fäden. Nach 80 Minuten hat sich ebenso fein wie dieses Tuch, das um den Säugling gewickelt wurde, eine mit filmischen Ideenfäden gewobene Geschichte entwickelt.
Die Jury lobt in der anschließenden Diskussion, die Höhe der künstlerischen Mittel in allen Gewerken dieses Films, derer sich Michel Hazanavicius mit seiner Crew so sicher bedienen. Zunächst wurde die atemberaubende zeichnerische Welt betrachtet. Im Zusammenwirken von Reduktion und bildgestalterischer Fülle wird auf Vorbilder wie Ari Folman zurückgegriffen und dennoch, in einem eigenen Stil, nur durch die animierten Bewegungen und die ausdrucksstarke Mimik, den eher in der Fläche agierenden Figuren förmlich zur Dreidimensionalität durch charakterliche Tiefe verholfen. Dabei braucht der Regisseur und Mitautor am Drehbuch, dem die literarische Vorlage von Jean-Claude Grumberg zugrunde liegt, nur sehr wenig gesprochenen Dialog. Entsprechend der einfachen Welt, in der die Figuren leben, werden die großen Fragen zwischen Leben und Tod verhandelt. Immer wieder nimmt der Film, nach stimmig eingesetzten Schwarzblenden, unerwartete Wendungen. Das hat die Jury sehr beeindruckt.
Die Jury lobt zudem die feine Dramaturgie, die die Tonalität des Märchens in seiner ganzen Ernsthaftigkeit bis zum berührenden Ende nie verlässt und mit neuen Figuren, die hinzukommen, überzeugend Höhepunkte und Wendungen kreiert. Obwohl die Filme zum Holocaust so unzählig sind und man glaubt, alles dazu schon gesehen zu haben, findet hier ein Filmteam eine neue Erzählform, die überwältigt ohne im falschen Überwältigungsmodus zu agieren, den Zuschauenden mitnimmt auf dem Weg der „kleinen Ware“, deren ganze Geschichte erst nach und nach enthüllt wird. Die Jury diskutiert den Einsatz der Musik vom ebenfalls Oscar gekrönten Filmkomponisten Alexandre Desplat als sehr gelungen und merkt nur ganz wenige Momente überhöht verstärkter Dramatik an. Dabei sind die jiddischen Kinderlieder im Dienst des zu Erzählenden stimmig eingesetzt. Die Bildmontage von Laurent Pelé-Piovani verwebt beide Erzählebenen elegant gekonnt. Ebenfalls als sehr gelungen betrachtet die Jury, dass ganz nebenbei, ohne dass der Film es besonders thematisiert, die Geschichte einer mutigen Frau erzählt wird, die in einer Zeit, in der Männer die Welt verheeren, das Leben eines fremden Kindes mit ihrem eigenen schützt und verteidigt.
Dieser besondere Film mit hoffnungsvollem Grundton und großer atmosphärischer Dichte bietet einen französischen Blick auf die europäische Dimension der Verbrechen im Nationalsozialismus und erzählt in hoher Aktualität von Faschismus und Menschenhass. Man verzeiht ihm das eine oder andere Sentiment. Der Facettenreichtum des Films ermöglicht es, so befindet die Jury, der Geschichte der Kindwerdung, die sehr ausführlich erzählt wird, ebenso folgen zu können, wie dem Schicksal der jüdischen Familie im Konzentrationslager. Damit gelingt dem Film die Weitung der Perspektive von einem individuellen Leid zu einem gesellschaftlichen Versagen.
Die Jury diskutiert das Filmende, das zu einem erforderlichen Schluss führt und der Erzähltradition der Märchen eine moderne Facette hinzufügt. Damit lässt uns der Film als Zuschauende nicht allein. Das Stilmittel der Graphic Novel, darauf verweist die Jury im Besonderen, kann das Thema des Holocaust sehr gut für die jüngere Generation aufschließen und stellt die entscheidenden Fragen nach Courage, Wahrhaftigkeit und Mitmenschlichkeit ohne seine Absicht moralisierend auszustellen. Das Schlussplädoyer gehört dem Erzähler. Die Jury empfiehlt, DAS KOSTBARSTE ALLER GÜTER im Original zu zeigen, was auf Grund der wenigen Dialoge sehr gut funktioniert und den Filmgenuss erhöht.
Mit großer Freude vergibt die Jury das Prädikat besonders wertvoll und wünscht diesem Film ein weltweit aufmerksames, berührtes Publikum.