Jury-Begründung
Prädikat besonders wertvoll
Einer der bekanntesten Sätze von Karl Marx fiel ihm leicht beschwipst bei einem Spaziergang mit Friedrich Engels ein. Ob das historisch so verbürgt ist, kann bezweifelt werden, aber es ist eine schöne Szene in Raoul Pecks DER JUNGE KARL MARX, in der die beiden wichtigsten Qualitäten des Spielfilms zusammenkommen. Zum einen ist der Film eine klassisch erzählte Biografie, in der die Geschichte der Freundschaft dieser beiden so unterschiedlichen Männer erzählt wird, und in dem Marx sowohl buchstäblich wie auch im übertragenen Sinne ohne seinen „Rauschebart“ gezeigt wird: als ein brillanter junger Mann, der sich in diesen Jahren immer mehr vom Philosophen in einem politischen Kämpfer verwandelte. Zum anderen wird der Film aber auch seinen Ideen und Werken gerecht, indem er klar, doch ohne dabei zu vereinfachen, zeigt, wie Marx und Engels in den vier Jahren vor 1848 zuerst jeder für sich und dann gemeinsam ihr Frühwerk bis hin zum Kommunistischen Manifest entwickelten, wie sie die politischen Zustände sahen und analysierten und gegen welche Widerstände sie ihre Positionen verteidigen mussten. Engels ist als Fabrikantensohn, der im Betrieb seines Vaters als Prokurist arbeitet und so zu der Klasse gehört, die er bekämpft, in einer extrem widersprüchlichen Situation und Marx lebt ständig in prekären Verhältnissen, kann sich und seine Familie mit seinen Schriften kaum ernähren und muss immer wieder fliehen, weil er von den Obrigkeiten verfolgt wird. Der Film zeigt, wie Marx führende fortschrittliche Denker und Politiker seiner Zeit wie Proudhon, Weitling und Bakunin trifft, sich mit ihnen auseinandersetzt und in diesem Prozess zu seinen eigenen Theorien und Visionen findet. Und er zeigt ohne jede Sozialromantik, in welchem Maße die Arbeiter und Mittellosen jener Zeit ausgebeutet und unterdrückt wurden. Der Film ist bis in die kleinste Nebenrolle großartig besetzt und neben August Diehl in der Titelrolle sowie Stefan Konarske als Friedrich Engels muss auch Vicky Krieps in der Rolle von Jenny Marx genannt werden, denn durch ihre Darstellung wird deutlich, dass Marx eine willensstarke und ihm intellektuell ebenbürtige Frau hinter sich hatte. Raoul Peck inszeniert in all diesen Registern stilsicher und umschifft auch souverän die bei historischen Filmen immer drohenden Untiefen, dass Ausstattung und Kostüme entweder zu sauber oder zu museal wirken. Und mit dem Epilog hat er ein sehr effektives Mittel gefunden, um den Zuschauer aus der Perspektive eines historischen Films, in dem von längst Vergangenem erzählt wird, herauszuschleudern. Zum plötzlich und laut ansetzenden „Like a Rolling Stone“ von Bob Dylan zeigt Peck eine Kollage von ikonografischen Bildern von den sozialen Kämpfen und sozialistischen Fehlentwicklungen rund um den Erdball zwischen der Revolution von 1848 und heute. So macht der Film deutlich, dass die Ideen von Marx und Engels immer noch relevant sind.