Jury-Begründung
Prädikat besonders wertvoll
Dieser Film gehört vielleicht zu den Sternstunden der aktuellen deutschen Kinoproduktion. Im Genre des Vampir-Films steht man im Wettbewerb mit zahlreichen berühmten Vorläufern und nicht wenigen Kultfilmen. Dem Regisseur Dennis Gansel ist scheinbar ein großer Wurf gelungen. Dabei tragen handwerkliche Perfektion und herausragende darstellerische Leistungen wesentlich zum Erfolg bei. Während in der alten Tradition mysteriöse Grafen und überwiegend männliche Finsterlinge dem Publikum das Fürchten lehren, sorgt in Gansels Film eine weibliche Vampir-Familie für Spannung, Humor und generell gute Unterhaltung. Mit abendländisch-antiker (freilich anachronistisch wirkender) Ausdrucksweise ließe sich sagen, dass diese Blutsaugerinnen auch Grazien sind. Die Matriarchin Louise (eindrucksvoll verkörpert von Nina Hoss) ist längst noch nicht verwelkt, nur Ansätze des Verblühens sind ihrer Thalia-Schönheit anzusehen; umso mehr strahlt ihr Aglaia-Glanz (mit Schmuck dekoriert und Haute Couture kostümiert). Auf der Love-Parade hatte sie per Liebesbiss Nora (erfrischend gespielt von Anna Fischer), die mit vitaler Fruchtbarkeit von Frohsinn erfüllt ist (und quasi Verwandtschaft mit den Grazien Thalia und Euphrosyne aufweist), in ihre Familie kooptiert. Schon zu Stummfilmzeiten holte Louise sich die melancholische Charlotte (eindrucksvoll durch Jennifer Ulrich dargestellt), die weniger einer Grazie als vielmehr der Muse Melpomene gleicht. Das Rezept des Films beinhaltet eine ästhetische Mischung aus frivoler Erotik, Gewalt, Kriminalität, Luxus, Action, Obsessionen, Nostalgie … und sogar aus Liebessehnsucht und Moral. Denn Lena (Karoline Herfurth) kommt ins Spiel. In ihren Augen glüht das gewisse Etwas, das Louise sehnsüchtig sucht und fasziniert. Während sie Nora leicht auf ihren Olymp erheben und in die Familie integrieren konnte (im Sinne einer Allianz der göttlichen Aphrodite mit der irdische Helena), stößt sie bei Lena auf Schwierigkeiten und Widerstand. Lena stammt aus der Unterschicht. Sie ist arm, klug und schön. Doch die Schönheit ist zunächst versteckt und nur in ihren Augen aufleuchtend. Als Kleinkriminelle wird sie von dem Kommissar Tom Serner (Max Riemelt) verfolgt, verstanden und mehr und mehr geliebt. Unnötig zu sagen, dass beide ihre Rolle hervorragend spielen, sonst würde der Film nicht (bzw. nicht so gut) funktionieren. Freilich ist er nicht frei von Fragwürdigkeiten. In der Diskussion wurde u. a. auch das Problem erörtert, ob von den Drehbuchautoren die Geschichte vorsorglich so gestrickt wurde, dass man dem Vorwurf der Menschenfeindlichkeit entgeht. Als Opfer der femininen Vampire kommen vornehmlich fiese Zuhältertypen aus dem Gangstermilieu in Betracht („je böser der Mann desto süßer das Blut“). Natürlich werden „Normalos“ ebenfalls reichlich zur Ader gelassen, aber es gibt eben doch auch Mitleid bei den Blutsaugerinnen (z. B. beim Ableben eines unschuldigen Wachmanns und beim ungewollten Tod des niedlichen Hotelpagen - „Menschen gehen so furchtbar leicht kaputt“). Außerdem sind da emotional bewegene Momente (etwa beim Besuch von Charlotte bei ihrer altersschwachen Tochter oder beim Gespräch von Lena mit ihrer Mutter). Wenn man vom Feuertod absieht, sind die Vampir-Damen vor physischen Verletzungen gefeit, aber ihre Psyche bleibt offenbar empfindsam - ihr Herz ist eine Achillesferse. Schließlich zeigt sich auch an Louise, die sich den lauten, gierigen, triebhaften und dummen Vampiren überlegen glaubt, dass Liebe nicht nur blind, sondern auch blöd macht – besser gesagt, dass solche Folgen bei Eifersucht auftreten können. Durch ihr Begehren, das auf Lena fixiert ist, unterlaufen ihr Fehler, sie handelt unvorsichtig und verliert die Kontrolle (absolute Macht ist nicht ewig). Lena wiederum stellt einen Sonderfall dar. Sie wurde zwar in einem Heil- und Schönheitsbad verwandelt (ihre Tätowierung verblasste, ihre Wunde heilten), aber Lena behält ihre rebellische und human-gesinnte Haltung bei (die hier gemeinten fotografisch großartigen Bilder und Spezialeffekte kommen in Gansels Film übrigens mehrfach vor - etwa beim ansengenden Sonnenaufgang - und sprechen unter anderem auch für die Kamera-Arbeit von Torsten Breuer). Lenas resistenter Charakter wird an Kleinigkeiten deutlich, wenn sie z.B. mit dem Autoschlüssel ihr teures Auto zerkratzt und kommt außerdem groß zur Geltung, wenn sich ihre Liebe zu Tom entwickelt. Lena gehört nicht auf den Olymp bzw. sie mutiert auch nicht zur übermächtigen Titanin; sie bleibt menschlich (lässt beispielsweise symbolträchtig vom Biss ab und zieht den Kuss vor). Es gäbe noch viel handwerkliche Arbeit zu würdigen, die bei diesem Film geleistet wurde. Abschließend soll hier jedoch nur noch auf eine Seltenheit verwiesen werden: In der „Laborsituation“ der Filmvorführung bei FBW-Begutachtungen ist es nicht gerade häufig, dass die gestrenge Jury herzhaft und lautstark lacht. WIR SIND DIE NACHT hinterließ Heiterkeit - und dies lag nicht allein an der Szene mit dem Rauchverbot im Restaurant oder an der ulkigen Begrüßung von Bernd dem Wachmann. Aus solcher Stimmungslage heraus, fiel die Entscheidung für das höchste Prädikat nicht schwer, maßgeblich waren jedoch die manifesten Qualitäten des sehenswerten Films. Qualitativ ist der Film u. a. auch deshalb herausragend, weil die originellen fiktionalen Inhalte genregerecht durch faszinierende filmästhetische Formen und Spezialeffekte bereichert und in gewisser Hinsicht überblendet werden.