Wegzaubern
FBW-Pressetext
Sie werden als Töchter gutbürgerlicher Familien oder der Arbeiterschicht geboren. Sie wachsen als introvertierte oder extrovertierte Mädchen auf. Sie heiraten früh, sie heiraten spät, sie kriegen viele Kinder, keine Kinder, verlieren Kinder. Sie lernen einen Beruf, sie sind Hausfrau. Sie sind alle unterschiedlich. Doch sie haben zwei Dinge gemeinsam. Sie alle sind Künstlerinnen. Und werden als „psychisch Kranke“ in Nervenheilanstalten eingesperrt. Die Filmemacherin und Künstlerin Betina Kuntzsch hat sich für WEGZAUBERN in den Krankenakten von Patientinnen der psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg umgesehen. Fragmente dieser Akten bilden die textliche Grundlage ihres sechsminütigen Films. Sachlich, knapp und im Protokollstil werden die Diagnosen verlesen. Auf visueller Ebene benutzt Kuntzsch historische Laterna-Magica-Filme, die immer wieder das Thema Zaubern aufgreifen. Oft sind junge Frauen zu sehen, die im Haushalt zaubern, die den Tisch decken. Oder kleine Kinder, die miteinander spielen. Akustisch ist der Film untermalt mit Waterphone-Improvisationen. Im Zusammenspiel ergeben der fast schon distanziert wirkende Text, die unschuldigen Impressionen und der subtile Klangteppich eine unglaublich dichte und fast schon unheimlich anmutende Atmosphäre, die zwar absurd wirkt und doch so viel unbarmherzige Grausamkeit gegenüber den Frauen offenbart, die einfach nur Künstlerinnen sein wollten. Und genau das wollte die Gesellschaft einer vergangenen Zeit nicht zulassen. Ein klug gebauter Found-Footage-Film, der noch lange im Betrachter nachwirkt. Und der den namenlosen Frauen, über die er spricht, großen Respekt zollt.Filminfos
Gattung: | Animationsfilm; Dokumentarfilm; Kurzfilm |
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Regie: | Betina Kuntzsch |
Drehbuch: | Betina Kuntzsch |
Kamera: | Animated Found Footage |
Schnitt: | Betina Kuntzsch |
Musik: | Joachim Gies |
Länge: | 6 Minuten |
Produktion: | Betina Kuntzsch |
Jury-Begründung
Will man Geschichten erzählen, können historische Daten und Akteneinträge dabei helfen, diese Geschichten mit interessanten Fakten zu füllen. Will man darüber hinaus aber etwas über den Kontext der Geschichte erzählen, so lässt man am besten die Informationen für sich sprechen. Genau so verfährt die Filmemacherin und Künstlerin Betina Kuntzsch in ihrem Animationsfilm WEGZAUBERN.Auf der Tonebene hören wir die Akteneinträge von Patientenakten aus einer Nervenheilanstalt. Die erwähnten (aber nicht mit Namen) Patienten sind allesamt weiblich, haben aber unterschiedliche Biografien und Hintergründe, haben sogar in unterschiedlichen Zeiten gelebt. Sie alle eint aber das Streben nach Kunst, nach Selbstverwirklichung, nach Kreativität. Und außerdem eint sie, dass genau dies nicht gerne gesehen war. Kuntzsch setzt den sehr klug gewählten Aktenfragmenten, die mit ruhiger und sachlicher Stimme eingesprochen werden, Bilder von einer vergangenen Zeit entgegen. Es sind 35mm-Endlosfilme für eine Laterna Magica, die Motive des Zauberns in jedweder Form aufgreifen. Die Jury bemerkte, wie gut durchdacht das Konzept des Films ist. Nicht nur erzeugen die Filme an sich ein Gefühl der Historie. Auch das Material selbst, das mit Kratzern und durch eingeblendete Filmstreifen markiert ist, wird als etwas „Vergangenes“ greifbar gemacht. Und obwohl man als Zuschauer sich erst einmal in die seltsam distanzierte Vortragsweise der Sprecherin einfügen muss und die Verbindung mit den animierten Figuren nicht sofort erkennen kann, lässt man sich in den Film hineinfallen. Die Kritik, die Kuntzsch an der Behandlung der Künstlerinnen äußert, versteckt sich gekonnt und raffiniert hinter der kalten Wahrheit des geschriebenen Worts. Automatisch ergänzt man im Kopf die angerissenen anonymen Biografien der Frauen.
Das einzige, was die Jury als etwas kritisch ansehen konnte, war die etwas zu kurz geratene Einblendung an Hintergrundinformation, die am Ende als Infotafel erscheint. Zu kurz, aber dennoch als Auftakt zu interessanten Gesprächen und Diskussionen sehr geeignet. Die Jury verleiht dem Film, der es in ihren Augen schafft, gleichzeitig Geschichte und Geschichten zu erzählen, das höchste Prädikat „besonders wertvoll“.