Jury-Begründung
Prädikat besonders wertvoll
Der Regisseur Ayat Najafi begleitet in seinem berührenden und großartigen Dokumentarfilm NO LAND´S SONG seine Schwester Sara Najavi (34 Jahre), eine Komponistin, die in Teheran lebt, bei ihrem Projekt, weibliche Gesangsstimme im Iran wieder in die Öffentlichkeit zu bringen. Als Hommage an die legendäre Sängerin Qamar al-molouke Vaziri, die in den 1920er Jahren das Tabu der iranischen Gesellschaft gebrochen hatte und öffentlich als Sängerin aufgetreten war, organisiert sie ein Konzert in Teheran mit den iranischen Sängerinnen Parvin Namazi (61 Jahre) und Sayeh Sodefi (35 Jahre). Und zwar gegen alle Widerstände der religiösen Führer des Landes und des obersten Kulturrates, die das öffentliche Auftreten von Solo-Sängerinnen vor Männern nach der Revolution 1979 verboten hatten - wegen der Gefahr der Verführung von Männern. Zugleich will sie eine Brücke zu französischen zeitgenössischen jungen Sängerinnen bauen und lädt die französischen Sängerinnen Elise Caron und Jeanne Cherhal sowie die tunesische Sängerin Emel Mathlouthi, die Stimme des arabischen Frühlings, zur Zusammenarbeit und Vorbereitung des Konzerts in Teheran ein. Begleitet werden die Sängerinnen von den französischen Musikern Edward Perraud (Trommel) und Sébastian Hoog (Gitarre), sowie iranischen Musikern mit ihren traditionellen Musikinstrumenten. Den Sängerinnen und Musikern wird Raum gegeben, ihre Musik vorzustellen, wobei sich das Revolutionslied „Bird of Dawn" (Morque-e-Sahar) wie ein Leitfaden durch den Film zieht. Schritt für Schritt begleitet der Regisseur seine Schwester und ihr solidarisches Team bei den vierjährigen Vorbereitungen des Konzerts zwischen Teheran und Paris. Hoffen und Bangen auf ein Einreisevisum für die französischen Gäste in den Iran werden von den Beamten im Kulturministerium mit immer neuen Argumenten abgewehrt. Aber sie haben nicht mit der Beharrlichkeit von Sara gerechnet, die sich brav und verhüllt, mit verstecktem Mikrofon, immer wieder zu ihnen auf den Weg macht oder zu ihnen gerufen wird, um hinter verschlossenen Türen zu verhandeln. Die abstrusen Verbote werden auf Schwarzbild hörbar und geben dem Film einen dramaturgisch starken und intelligenten Spannungsbogen. Mit gespielter Naivität interviewt Sara einen Mulla, der als Vertreter der Religion die weibliche Stimme als ein gefährliches Einfallstor für Zügellosigkeit bezeichnet, da sie aus Männern willenlose Tiere mache. Alle Sängerinnen und Musiker tragen mit ihrer Empathie zum Gelingen des musikalischen Dokumentarfilms bei, ebenso die hervorragende Kamera und Montage. Mit subversivem Witz erklärt Sara den französischen Sängerinnen und begleitenden Musikern in Paris die Kleiderordnung im Iran und auch, welche anstandsgetreuen Bewegungen bei der musikalischen Darbietung erlaubt sind. In Teheran begibt sie sich mit Pravin Nazami auf die Spuren der Auftrittsorte, der legendären Sängerin Quamar, in Theater, Bars und Cafés der einstigen Flaniermeile Teherans. Orte, die umfunktioniert wurden als Lagerorte für Kabeltrommeln und andere Gegenstände, während sich die Sängerinnen und Musiker in Paris der iranischen Musik annähern und eine ideale Projektionsfläche für das Verständnis und die Kreativität iranischer Musik bieten. Der Film ist ein sensibles Plädoyer für Engagement, Kunst, kämpferische Lebensfreude und natürlich Musik. Aber auch für den Widerstand gegen die Mechanismen repressiver Staaten. NO LAND’S SONG nimmt sein Publikum mit bei dem Bangen um das Gelingen des Konzertauftritts, der schließlich trotz aller Widerstände am 19. September 2013 vor Männern und Frauen im Teheraner Opernhaus stattfindet. Das mutige Ensemble schafft es zu guter Letzt doch, dem iranischen Konzertpublikum die vermeintlich gefährlichste aller Freuden, eine weibliche Sologesangsdarbietung, zu verschaffen.