Lenas Klasse

Kinostart: 28.04.16
2014
Filmplakat: Lenas Klasse

FBW-Pressetext

Nachdem sie jahrelang zu Hause von ihrer Mutter unterrichtet wurde, kommt die aufgrund einer Muskelerkrankung an den Rollstuhl gefesselte 15-jährige Lena zum Beginn des neuen Schuljahres in eine Sonderklasse für Schüler mit Behinderungen. Schon bald versucht Lena, die den anderen an Intelligenz überlegen ist, ihre Mitschüler zu motivieren, sich stärker im Unterricht zu engagieren, um am Ende des Jahres in eine „normale“ Klasse versetzt zu werden. Doch mit ihren Ideen eckt Lena an. Bei der Schulkommission, die nichts für die Schüler unternehmen will. Und bei den Mitschülern, die ihr das aufkeimende Liebesglück mit ihrem Mitschüler Anton nicht gönnen. Bald schon eskaliert die Situation. In seinem Spielfilmdebüt entwirft Ivan I. Tverdovskiy anhand des Mikrokosmos der Schule ein schonungslos verstörendes Bild von der systematischen Ausgrenzung benachteiligter Menschen in der modernen russischen Gesellschaft. Menschen wie Lena werden zu Individuen zweiter Klasse herabgestuft, denen eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verweigert wird. Einen Kontrapunkt zur Inszenierung dieses sozialen Brennpunktthemas setzen gerade in der ersten Hälfte des Films Szenen voller Lebensfreude und jugendlichen Übermuts. Im Entstehen von Lenas erster Liebe, der Entdeckung ihrer Sexualität, aber auch im trotzigen Widerstand gegen ein faschistoid anmutendes Schulsystem zeichnet der Regisseur das Bild einer starken jungen Frau, die dabei ist, sich selbst zu entdecken und um ihren Platz in der Gesellschaft kämpft. Die Handkamera ist immer ganz nah bei der Hauptfigur, kämpft sich mit ihr durch Menschenmengen hindurch, begleitet die vor Glück übersprudelnde Fahrt in einem Einkaufswagen und weicht auch in den erschütterndsten Momenten nicht von ihrer Seite. Durch diese Nähe erhält der Film eine ungeheuerliche Intensität und Eindrücklichkeit, der man sich als Zuschauer nicht entziehen kann. Hervorzuheben sind neben den durch die Bank überzeugenden Jungschauspielern auch die Darstellung von Lenas Mutter, deren verzweifelter Kampf um die soziale Anerkennung der eigenen Tochter sich vornehmlich im Hintergrund abspielt und erst am Ende die Spuren offenlegt, die er in ihr hinterlassen hat. Durch das spürbar vermittelte Leid der Figuren, die realistische Härte der Geschichte und die authentische Atmosphäre des Milieus ist LENAS KLASSE ein Film, der weit über das Ende des Abspanns hinaus nachwirkt.
Prädikat besonders wertvoll

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Filminfos

Gattung:Drama; Spielfilm
Regie:Iwan Twerdowski
Darsteller:Maria Pojeszhajewa; Philipp Awdejew; Nikita Kukuschkin; Natalija Pawlenkowa; Artem Markarjan; Olga Lapshina
Drehbuch:Iwan Twerdowski
Kamera:Fedor Struchev
Schnitt:Iwan Twerdowski
Musik:Moritz Hoffmeister; Peter Sandmann
Länge:93 Minuten
Kinostart:28.04.2016
Verleih:Kino Krokodil
Produktion: Jomami Filmproduktion UG
FSK:12
Förderer:MBB

Jury-Begründung

Prädikat besonders wertvoll

Dieser Film wühlt auf. Iwan Twerdowski erzählt fast immer aus der Perspektive der Titelhelden und mit der extrem beweglichen Handkamera verstärkt er diese Sichtweise, sodass der Zuschauer sich ihrem Leidensweg kaum entziehen kann. Lena ist eine intelligente Jugendliche und wäre eine gute Schülerin, wenn sie nicht gelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen wäre. Deshalb kommt sie zum Beginn des neuen Schuljahres in eine sogenannte Anpassungsklasse, in die all jene Schüler mit Behinderungen und extremen Verhaltensauffälligkeiten gesteckt werden. Dort werden sie diskriminiert und Lena merkt schnell, dass die Lehrer überhaupt kein Interesse daran haben, sie zu fördern, sondern sie stattdessen bei jeder Eigeninitiative beschimpfen und bestrafen. Von ihren Klassenkameraden wird sie zuerst akzeptiert und es gelingt ihr sogar eine Zeitlang, sie dazu zu motivieren, für die Zulassungsprüfung, die der einzige Ausweg aus ihrer schulischen Miesere ist, zu lernen. Doch als sie sich in einen von ihnen verliebt, löst dies Eifersucht und Neid unter den Mitschülern aus, was zu einem schockierenden Akt des Missbrauchs führt. Doch Twerdowski macht deutlich, wie diese Brutalität der Jugendlichen die der Erwachsenen spiegelt. So begegnet die Schuldirektorin der offensichtlich nur körperlich behinderten Lena vom ersten Moment an mit offener Verachtung und einer schockierenden Kaltherzigkeit. Und als Lena und ihr Freund bei ihren ersten zärtlichen Annäherungen erwischt werden, reagieren die Erwachsenen darauf extrem abweisend, weil sie Sexualität unter Behinderten als pervers ansehen. Twerdowski inszeniert in einem quasidokumentarischen Stil, der sehr authentisch wirkt. Und es gelingt ihm, intensiv das Lebensgefühl der Jugendlichen zu vermitteln. So etwa, wenn sie ihre Grenzen austesten und sich auf die Gleise unter fahrende Eisenbahnzüge legen, wenn sie übermütig in einem Supermarkt herumtollen oder Lena von ihrem Freund Anton in einem Einkaufswagen durch die Pfützen auf den Straßen gewirbelt wird. Umso niederschmetternder wirken dann der Gewaltexzess im letzten Akt, der durch eine märchenhafte Vision nur noch verstärkt wird. Twerdowski arbeitet auch mit einer bitteren Ironie, wenn er etwa zeigt, wie den ganzen Film über an einer Rampe für Rollstuhlfahrer an der Schultreppe gearbeitet wird, die Lena dann schließlich gar nicht benutzen kann, weil ihre Schienen nicht tief genug montiert sind. Ein paar dramaturgische Ungeschicklichkeiten (so ist es nur schwer nachzuvollziehen, warum sich auch Anton zum Schluss von Lena abwendet) verzeiht man Twerdowski gerne, denn sein Film ist ein wilder und wahrhaftiger Aufschrei gegen die Verrohung der russischen Gesellschaft, den man aber auch als eine universelle Geschichte über das Erwachsenenwerden lesen kann.