Jury-Begründung
Prädikat besonders wertvoll
Dieser Film wühlt auf. Iwan Twerdowski erzählt fast immer aus der Perspektive der Titelhelden und mit der extrem beweglichen Handkamera verstärkt er diese Sichtweise, sodass der Zuschauer sich ihrem Leidensweg kaum entziehen kann. Lena ist eine intelligente Jugendliche und wäre eine gute Schülerin, wenn sie nicht gelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen wäre. Deshalb kommt sie zum Beginn des neuen Schuljahres in eine sogenannte Anpassungsklasse, in die all jene Schüler mit Behinderungen und extremen Verhaltensauffälligkeiten gesteckt werden. Dort werden sie diskriminiert und Lena merkt schnell, dass die Lehrer überhaupt kein Interesse daran haben, sie zu fördern, sondern sie stattdessen bei jeder Eigeninitiative beschimpfen und bestrafen. Von ihren Klassenkameraden wird sie zuerst akzeptiert und es gelingt ihr sogar eine Zeitlang, sie dazu zu motivieren, für die Zulassungsprüfung, die der einzige Ausweg aus ihrer schulischen Miesere ist, zu lernen. Doch als sie sich in einen von ihnen verliebt, löst dies Eifersucht und Neid unter den Mitschülern aus, was zu einem schockierenden Akt des Missbrauchs führt. Doch Twerdowski macht deutlich, wie diese Brutalität der Jugendlichen die der Erwachsenen spiegelt. So begegnet die Schuldirektorin der offensichtlich nur körperlich behinderten Lena vom ersten Moment an mit offener Verachtung und einer schockierenden Kaltherzigkeit. Und als Lena und ihr Freund bei ihren ersten zärtlichen Annäherungen erwischt werden, reagieren die Erwachsenen darauf extrem abweisend, weil sie Sexualität unter Behinderten als pervers ansehen. Twerdowski inszeniert in einem quasidokumentarischen Stil, der sehr authentisch wirkt. Und es gelingt ihm, intensiv das Lebensgefühl der Jugendlichen zu vermitteln. So etwa, wenn sie ihre Grenzen austesten und sich auf die Gleise unter fahrende Eisenbahnzüge legen, wenn sie übermütig in einem Supermarkt herumtollen oder Lena von ihrem Freund Anton in einem Einkaufswagen durch die Pfützen auf den Straßen gewirbelt wird. Umso niederschmetternder wirken dann der Gewaltexzess im letzten Akt, der durch eine märchenhafte Vision nur noch verstärkt wird. Twerdowski arbeitet auch mit einer bitteren Ironie, wenn er etwa zeigt, wie den ganzen Film über an einer Rampe für Rollstuhlfahrer an der Schultreppe gearbeitet wird, die Lena dann schließlich gar nicht benutzen kann, weil ihre Schienen nicht tief genug montiert sind. Ein paar dramaturgische Ungeschicklichkeiten (so ist es nur schwer nachzuvollziehen, warum sich auch Anton zum Schluss von Lena abwendet) verzeiht man Twerdowski gerne, denn sein Film ist ein wilder und wahrhaftiger Aufschrei gegen die Verrohung der russischen Gesellschaft, den man aber auch als eine universelle Geschichte über das Erwachsenenwerden lesen kann.