Es ist nun schon zwei Jahre her, dass Rachel von ihrem Mann Tom geschieden wurde. Schon in ihrer Ehe trank Rachel zuviel, mittlerweile kann sie ohne Alkohol den Tag nicht überstehen. Ein wenig Ablenkung erhält sie nur, wenn sie morgens, auf dem Weg zur Arbeit, an den Häusern in den Vororten vorbeifährt und die Menschen darin beobachtet, wenn der Zug auf der Strecke haltmachen muss. So sieht sie täglich die junge Megan und ihren Mann Scott, die für sie zum Inbegriff einer perfekten Beziehung werden. Und in deren Nachbarschaft Rachel selbst einmal gelebt hat. Doch nun lebt Tom mit seiner zweiten Frau Anna und ihrem kleinen Kind in dem Haus mit dem großen Vorgarten und dem weißen Gartenzaun. Und obwohl sie weiß, dass es nicht gut ist, zieht es Rachel immer wieder zu ihrem alten Zuhause. Sie steigt aus dem Zug und läuft durch ihre alte Gegend. So auch an diesem einen bestimmten Abend. Am nächsten Morgen wacht sie ohne Erinnerung in ihrem Bett auf. An ihrem Körper und ihrer Kleidung ist Blut. Und Megan wird vermisst. Drei Frauen, verbunden durch einen Ort, einen Zufall oder auch ein gemeinsames Schicksal? Das ist die Ausgangssituation von GIRL ON THE TRAIN, der Verfilmung des gleichnamigen Erfolgsromans von Paula Hawkins. Regisseur Tate Taylor hält sich eng an die Vorlage und schafft es, die Spannung und den Thrill des Buches in atmosphärisch dichten Bildern auf die Leinwand zu transportieren. Ganz nah ist die Kamera bei den Figuren, die Totalaufnahmen der Gesichter zeigen sie in ihrer Enge der schicksalshaften Situation, zeigen die inneren Konflikte und die Fragen, die sich auch der Zuschauer mehr und mehr in dem eng verwobenen Rätselspiel stellt. Im Zentrum der Handlung stehen die drei weiblichen Hauptfiguren, die Tate Taylor geschickt in ihrer Verschiedenheit und den gleichzeitig erkennbaren Parallelen inszeniert. Rebecca Ferguson und Haley Bennett verkörpern Anna und Megan gekonnt, beide sind Madonnen, die eine Heilige, die andere Hure. Dass sich hinter beiden mehr verbirgt als nur eine eindimensionale Charakterzeichnung, ist ein Verdienst des komplex und klug gebauten Drehbuchs. Geführt wird der Zuschauer durch Emily Blunt als Rachel. Ihre überzeugend verkörperte Verstörung ist die Verstörung des Zuschauers, der sich mit ihr auf Spurensuche in dem doppelbödigen Spiel aus Besessenheit, Eifersucht und Wut begibt und sich auch bei Rachel selbst nie sicher sein kann, was sie antreibt. Fragil, labil und zerbrechlich wirkt sie in einem Moment, wild und entschlossen im anderen. Mit seinen immer wieder überraschenden Wendungen, dem stimmig und sphärisch inszenierten Setting und einer sich ständig steigernden Spannungsdramaturgie ist GIRL ON THE TRAIN ein Thriller par excellence, der den Zuschauer mit atemloser Spannung begeistert.
Das Mädchen im Zug fährt jeden Tag an einem Haus vorbei, in dem für sie das perfekte Leben gelebt wird. Durch das Zugfenster sieht sie der schönen, blonden Bewohnerin dabei zu, wie sie sich in dieser vermeintlichen Idylle bewegt und wie sie auf dem Balkon von ihrem Mann liebkost wird. Diese beiden Frauen und eine Dritte haben ein kompliziertes Verhältnis zueinander, und die beträchtliche Spannung in diesem Film entsteht dadurch, dass erst langsam klar wird, was sie miteinander verbindet. Die Titelheldin ist eine zutiefst unglückliche, scheinbar gebrochene Alkoholikerin und im Laufe des Film wird deutlich, wie brutal sie in eine tiefe Lebenskrise geraten ist. Emily Blunt spielt sie mit einer trotzigen Verletzlichkeit, die die Figur rätselhaft und interessant macht. Erzählt wird kompliziert, mit vielen Zeitsprüngen und Perspektivwechseln, doch damit spiegelt der Film nur, wie verworren und trügerisch die Geschehnisse sich entfalten. Nicht alles, was die Protagonistin sieht und an was sie sich zu erinnern scheint, ist auch wirklich geschehen, und als sie eines Nachts voller Blut und verwundet aufwacht und zugleich einer der Frauen verschwindet, weiß sie nicht, ob sie sich einer Gewalttat schuldig gemacht hat. Langsam entwickelt sich der Film zu einem Thriller und im letzten Drittel wird immer packender nach den Konventionen des Genres erzählt. Doch auch dann wird nicht alles überdeutlich erklärt und Regisseur Tate Taylor spielt souverän mit bedrohlichen Stimmungen, Ungewissheiten und Ängsten. Es wird zwar ein Mord begangen, aber das zentrale Verbrechen des Films ist emotionaler Missbrauch und der Film macht deutlich, wie perfide die Psyche der Protagonistinnen manipuliert und beschädigt wird. Der Jury gefiel besonders, wie komplex die Frauenfiguren gestaltet sind und dass sie alle drei vielschichtig von sehr stimmig besetzten Schauspielerinnen verkörpert werden. Der Eisenbahnzug ist die zentrale Metapher des Films. In der ersten Einstellung wirkt er wie ein Gefängnis für die junge Frau, in der letzten fährt er sie auf anderen Gleisen in ein freieres Leben.