Ein ganz gewöhnlicher Jude
Filminfos
Gattung: | Spielfilm; Filmischer Monolog |
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Regie: | Oliver Hirschbiegel |
Darsteller: | Ben Becker |
Drehbuch: | Charles Lewinsky |
Weblinks: | ; |
Länge: | 94 Minuten |
Kinostart: | 19.01.2006 |
Verleih: | NFP |
Produktion: | Multimedia Film und Fernsehproduktion GmbH, NDR; |
FSK: | 0 |
Bildungseinsatz: | ; |
Jury-Begründung
Oliver Hirschbiegels filmischer Nachfolger zum „Untergang“ lässt jetzt sozusagen die andere Seite zu Wort kommen. Nach den Tätern nun die Opfer, genauer: deren Nachfahren, noch genauer: einen einzelnen Mann, der als Jude im Deutschland von heute lebt. Mit dem Filmtitel ist eine fortwährende Tautologie bereits angedeutet: Ein ganz gewöhnlicher Jude, das geht (noch) nicht in Deutschland, dazu bedarf es weiterhin der historischen und sozialpsychologischen Forschung, der Aufarbeitung und Aufklärung. Dazu bedarf es des Dialogs vor allem auch der kommenden Generationen, und es bedarf nicht zuletzt - des Verzeihens.Diesen Dialog wollen Oliver Hirschbiegel und sein Autor Charles Lewinsky offenkundig anstoßen - und sie verwenden dafür provokante Stilmittel: Der Film ist als Monolog angelegt und spielt als Ein-Personen-Stück fast ausschließlich in der Wohnung eines Mannes namens Emanuel Goldfarb. Ben Becker verkörpert ihn, was der Figur eine kraftvoll-emotionalisierte Dimension, aber auch eine gewisse Larmoyanz verleiht, zumal der Mann auf der Leinwand eine private Krise durchlebt, die er selbst ursächlich immer wieder mit der Rolle der Juden im Deutschland seit Heine und besonders mit der Traumatisierung durch den Holocaust in Verbindung bringt.
Emanuel Goldfarb nimmt zum Anstoß seiner fast pausenlos vorgetragenen Tiraden die Einladung eines engagierten Gymnasiallehrers, als „echter Jude“ vor seiner Klasse zu sprechen. Goldfarb vertraut seine Antwort einem Diktiergerät an. Daraus wird am Ende ein sechzigseitiges Skript. Die modifizierte Form des Briefromans erlaubt dem an seiner Entstehung optisch und akustisch beteiligten Zuschauer, dem „allmählichen Verfertigen der Gedanken beim Reden“ beizuwohnen. Da ist vieles pointiert, zum Teil sogar druckreif, vieles aber auch polemisch, und manches erkennbar Unsinn. Goldfarb ist auch nur ein Mensch.
Hirschbiegels Film spiegelt subjektive jüdische Befindlichkeit im zeitgenössischen Deutschland, er gibt keine reflektierte Position wieder - er ist kein Thesenpapier, sondern ein Film. Die Enge der Wohnung, die ständige Nähe der Figur, ihr andauernder Redefluss, all das lässt keine Einfühlung aufkommen. Der Film zwingt den Zuschauer zur kritischen Distanznahme, zur kritischen Abwägung des Gesagten. Dazu kommt, dass Goldfarb das Politische mit dem Privaten vermischt und für alles immer nur die eine Erklärung hat: das ewige Stigma als sozusagen die „Goldfarb-Variationen“ des jüdischen Selbsthasses.
So wird das Ganze auch für den aufgeschlossenen Zuschauer zu einer Gratwanderung zwischen den eigenen Emotionen, welcher Art auch immer, die in der audiovisuellen Beobachtung des Parforce-Ritts auf der Leinwand unweigerlich aufkommen müssen, und zwischen all dem Rationalisierungsbestreben, das mit dem schwierigsten aller „deutschen“ Themen ebenso unweigerlich einsetzt.
„Ein ganz gewöhnlicher Jude“ will provozieren. Und er tut es. Dem Bewertungssausschuss erschien diese Provokation, die durchaus nicht leicht zu ertragen ist, in der überwiegenden Mehrheit nicht als Selbstzweck. Der Schluss des Films macht - auch für das Fernsehen sendefähig? - klar, was die einzige Konsequenz sein kann: Der Dialog gerade mit jüngeren Generationen, die in Gestalt einer Hamburger Schulklasse ironischer und glücklicher Weise gar nicht mehr „typisch Deutsch“ daherkommen.
Der Ausschuss nahm den Film insgesamt als Plädoyer dafür, dass es für einen Juden grundsätzlich möglich sein müsste, im Haus der Mörder seiner Vorfahren normal zu leben. Der Film hätte ein gutes Ziel erreicht, würde der Zuschauer beginnen, über einige der Argumente kritisch nachzudenken, warum es für Emanuel Goldfarb nur sehr schwer möglich ist, ein ganz normaler Deutscher sein zu können.