Jury-Begründung
Prädikat besonders wertvoll
Hinterbliebene sind bei Unrechtstaten auch Opfer. Das macht die Dokumentation DIE FAMILIE eindrucksvoll deutlich, wenn sie Familienmitgliedern von an der Berliner Mauer Erschossenen ihre Geschichten erzählen lässt. Auch heute, mehr als ein Vierteljahrhundert nach ihrem Verlust, leiden sie noch an dem Trauma. Zu einem großen Teil auch deshalb, weil sie lange Zeit, in manchen Fällen bis heute, über die Umstände der Tötungen im Unklaren gelassen wurden, sodass sie keinen Abschluss und damit auch keinen Frieden finden konnten. Eine Frau weiß zum Beispiel immer noch nicht, wo die Leiche ihres Sohnes geblieben ist, eine andere versteht nicht, wie und warum ihr Ehemann damals an der Grenze ertrunken ist, eine dritte kann sich nicht mit der Bewährungsstrafe für den Mörder ihres Sohnes abfinden und spricht von ihren blutrünstigen Rachefantasien. Stefan Weinert lässt sie vor der Kamera erzählen, er geht mit den Hinterbliebenen an die Schauplätze, begleitet sie bei der Einsicht in die Unterlagen der Stasi und hilft ihnen bei weiteren Recherchen. Der Film ist erschütternd, weil hier auf verschiedenen Ebenen Zeugnis abgelegt wird. So werden die Aussagen der Betroffenen oft in Kontrast zu den entsprechenden Formulierungen in den Stasiakten gesetzt, deren kaltes Bürokratendeutsch in diesem Kontext noch unerträglicher als gewöhnlich ist. Weinerts Protagonisten lassen zu, dass er sie in für sie sehr schmerzhaften Situationen filmt, wobei er ihnen sehr nahe kommt, aber sie nie in ihrem Leid ausstellt. So beeindruckt etwa jene Sequenz, in der einer der Betroffenen zum ersten Mal in einer Akte die Fotos von der Leiche seines Vaters sieht. Ein anderer reagiert zuerst irritiert und dann verzweifelt, wenn er im heutigen Berlin, wo Mauer und Beobachtungstürme längst abgebaut sind, den Ort, an dem sein Bruder erschossen wurde, nicht mehr finden kann. Wie geschickt Weinert den Film montiert hat, zeigt sich bei dem brutal wirkenden Schlussbild, auf dem eine der Hinterbliebenen bei der Andacht an einem Mahnmal zeigt, dass direkt neben der Filiale einer amerikanischen Imbisskette steht. Ein Jurist erklärt, warum die Verfahren gegen die Todesschützen an der Grenze mit solch unbefriedigenden Urteilen endeten und erweitert dadurch den Horizont des Films, in dessen Mittelpunkt aber immer die Protagonisten und ihre Traumata bleiben. Schließlich gelingt eine Begegnung zwischen einem Todesschützen und dem Sohn seines Opfers – und dieser erstaunliche Dialog bildet den Höhepunkt des Films. Mit der direkt danach eingeschnittenen Aufnahme von einem Mann, der ein Gewehr entsichert und damit zielt, verlässt Weinert ein einziges Mal seine rein beobachtende Perspektive und kommentiert. Darüber, ob diese überdeutliche Wertung angemessen ist oder die Wirkung des Films dadurch geschmälert wird, waren die Jurymitglieder unterschiedlicher Meinung. Einig waren sie sich aber darüber, dass dieser politisch, moralisch und menschlich gewichtige Film das höchste Prädikat verdient hat