Jury-Begründung
Prädikat besonders wertvoll
In ihrem vorherigen Film HANNAH ARENDT hatten Margarethe von Trotta und Barbara Sukowa versucht, ein ihnen fremdes historisches Milieu so glaubwürdig wie möglich zu rekonstruieren und einer bekannten Persönlichkeit aus jener Zeit gerecht zu werden. Hier können sie dagegen völlig aus dem ihnen Vertrauten schöpfen. Eine ähnliche wie die erzählte Geschichte ist der Regisseurin und Drehbuchautorin von Trotta selber widerfahren, außerdem spielt der Film in dem heutigen gutbürgerlichen Künstlermilieu, in dem sie heimisch ist. Barbara Sukowa lebt wie die von ihr gespielte Opernsängerin Caterina in New York. Wie auch Katja Riemann ist Barbara Sukowa professionelle Sängerin, sodass viel von ihrem eigenen Metier in ihre Rollen mit einfließen konnte. Diese Nähe der Geschichte und der Figuren zur Regisseurin und den Hauptdarstellerinnen ist wohl der Grund dafür, warum in DIE ABHANDENE WELT so entspannt und souverän erzählt wird. Dabei gibt es kaum einen Plot, der melodramatischer ist als jener von den Schwestern, die beide füreinander verloren waren und erst nach dem Tod ihrer Mutter zueinanderfinden. Doch von Trotta ist nicht an opernhaften dramaturgischen Effekten interessiert. Sie konzentriert sich ganz auf die Figuren, zeichnet sie sehr subtil und komplex. Katja Riemann und Barbara Sukowa sind diese Rollen auf den Leib geschrieben und so scheinen sie in jedem Moment ihres Spiels ganz bei sich zu sein. Sei es die Art, wie Katja Riemann am Beginn des Films gegen das Publikum in einer Bar ansingen muss und dann vom Manager gekündigt wird oder wie Barbara Sukowa als Diva nach einer Aufführung Hof hält – da ist nichts forciert, sondern jedes Detail und jede Geste wirkt authentisch. Und das Rätsel des Plots ist so raffiniert verschachtelt, dass von Trotta eine erstaunliche Spannung aufbauen und bis zum Schluss halten kann. So ist DIE ABHANDENE WELT über lange Strecken ein Art Detektiv-Film – kein „whodunit“ sondern ein „whoisshe“, und in der wohl genretypischsten Szene des Films wird dann ausgerechnet einer der Stars der 60er Jahre, Karin Dor, im Pflegeheim nach den dunklen Geheimnissen ihrer Vergangenheit befragt. Aber von Trotta spielt hier auch in ganz anderen Registern. So hat sie die angenehm unverkrampfte Liebesgeschichte zwischen Sophie und Philip in die Geschichte eingewoben und zu der melancholischen Grundstimmung, die ja schon im Titel anklingt, hat sie ein paar schöne komödiantische Kontrapunkte wie etwa die Prügelei des alten verfeindeten Brüderpaars gesetzt, bei dem Sophie das Lachen nicht unterdrücken kann. Jede Nuance ist im Buch, der Regie und der Darstellung vom gesamten Ensemble meisterlich gestaltet. Und so ist dies zugleich ein tiefer und ein leichter, ein kunstvoller und ein unterhaltsamer Film.