Jury-Begründung
Prädikat besonders wertvoll
Das Tagebuch der Anne Frank ist eines der wichtigsten literarischen Dokumente des letzten Jahrhunderts. Und seit den 1950er Jahren gibt es viele künstlerische Adaptionen. Es wurde als Graphic Novel gestaltet, als Theaterstück inszeniert, zum Ballett, Musical und zu einer Oper umgearbeitet. Es wurden auch eine ganze Reihe filmischer Bearbeitungen produziert, sowohl dokumentarische als auch fiktive, für das Kino und für das Fernsehen. Die Neuverfilmung von Hans Steinbichler zeichnet aus, dass sie konsequent aus der Perspektive Anne Franks erzählt wird. Und „die Herzensergüsse eines 13jährigen Schulmädchens“, wie Anne Frank es selber einmal nennt, wirken deshalb kaum wie ein historischer Kostümfilm, sondern eher wie eine der Coming of Age-Geschichten. So wird ein junges Publikum schnell Zugang zu der Geschichte bekommen, denn die Anne Frank des Films ist eine junge, erstaunlich modern wirkende Frau, in deren Gedanken, Hoffnungen, Ängste sich ihre heutigen Altersgenossen unmittelbar hineinversetzen können. Deshalb war es klug und entscheidend, auch jene Teile des Tagebuchs in Szene zu setzen, in denen es um die aufkeimende Sexualität von Anne Frank und die Schwierigkeiten mit ihrer Mutter geht. Diese Sequenzen, die auf Stellen im Tagebuch basieren, die ihr Vater in den ersten Ausgaben des Buches zensierte, lassen die Anne Frank des Films noch komplexer und damit lebendiger erscheinen. Und Lea van Acken spielt sie ohne einen drohenden Schatten der bevorstehenden Katastrophe sehr intensiv und natürlich. Es gelingt Steinbichler eindrucksvoll, eine Ahnung davon zu vermitteln, wie extrem und bedrohlich die Situation der in dem Amsterdamer Haus Versteckten gewesen sein muss. Er zeigt, wie es an der Substanz der Menschen zehrt, ständig in erzwungener Stille und in äußerster Vorsicht leben zu müssen, weil jedes Geräusch und jede falsche Bewegung die Entdeckung bedeuten. Dies gelingt auch, weil das hochkarätige, stimmig besetzte Darstellerensemble präzise und inspiriert spielt und weil durch Ausstattung, Szenenbild und die Arbeit der Kamera die klaustrophobische Enge der Räume intensiv vermittelt wird. Steinbichler hat für DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK eine künstlerisch überzeugende und zeitgemäße Umsetzung des Stoffes gefunden. Denn weil er ihre Geschichte nicht als eine Geschichtsstunde, sondern als ein bewegendes, menschliches Drama gestaltet, gibt er ihr neben der gerade heute so wichtigen Aufklärung über Antisemitismus und Holocaust noch eine weitere, zugleich universelle und tagesaktuelle Bedeutung. Wenn in ihm von Verfolgung, Flucht, Mut, Angst, Diskriminierung und Vernichtung erzählt wird, sind die Parallelen zur Flüchtlingsproblematik nicht zu übersehen.