Jury-Begründung
Prädikat wertvoll
Die Dokumentarfilmerinnen Yalda Afsah und Ginan Seidl geben in ihrem 30-minütigen Dokumentarfilm BOY Einblicke in das Leben der 13-Jährigen Farah Noz, die in Mazar-e-Sharif in Afghanistan als „Bacha Posh“ lebt. Das bedeutet, als Mädchen geboren zu sein, aber gekleidet wie ein Junge aufzuwachsen, um ein freieres Leben zu führen, als es die afghanischen gesellschaftlichen Traditionen und Konventionen für Mädchen zulassen, und später dann als Frau verheiratet zu werden. Die filmischen Beobachtungen ihres Alltags werden den Erinnerungen einer zweiten Protagonistin gegenüberstellt, die ebenfalls als „Bacha Posh" in Afghanistan aufwuchs und als erwachsene Frau als Sängerin auftrat. Als sie jedoch Morddrohungen der Taliban erhielt, emigrierte sie nach London, um ihr Leben als starke und kreative Frau in einer Welt zu gestalten, die im Vergleich zu Afghanistan ein anderes Verständnis von Geschlechterrollen zulässt. Den Filmemacherinnen ist es ein Anliegen, die kulturellen Einschränkungen auf Grund der Gender-Problematik in Afghanistan und den freieren Möglichkeiten in Europa zu thematisieren. Lobend hervorzuheben ist, dass es ihnen gelingt, den sozialen Druck, dem eine Familie ohne männliche Nachkommen in der afghanischen Gesellschaft ausgesetzt ist, aufzuzeigen. Dabei ist die 13-Jährige Farah ein Glücksfall, die mit ihrem Charisma als faszinierende Protagonistin überzeugende und berührende Eindrücke in ihr Leben vermittelt. Sie beschützt ihre Familie und ihre Familie beschützt sie, ob sie Fußball spielt oder die Einkäufe für die Familie in der Männerwelt besorgt. Sie wäre lieber ein Junge, lehnt aber die Mädchenrolle nicht ab. Sie kann wunderbar tanzen, sie bügelt ihre Mädchenkleider für die Schule und erklärt dabei, dass ihre Lehrerin ihre Kleidung nicht so streng wie die ihrer Mitschülerinnen beurteilt. In der Schule albert sie mit ihren Freundinnen herum und erzählt, dass zwei Mädchen in sie verliebt waren, sie aber beide abgelehnt hat. Sie will den Führerschein machen und sie lernt reiten. Wenn die Kamera nah bei ihr ist, sind die ausschnitthaften Schilderungen ihrer Situation und ihrer Gefühle gelungen und überzeugend. Weniger gelungen ist nach Ansicht der Jury die dramaturgische Gestaltung der langen Kamerafahrten durch die Straßen, die atmosphärisch die kulturell unterschiedlichen und gegensätzlichen Möglichkeiten der Lebenssituationen der beiden Protagonistinnen mit Kommentaren aus dem Off beschreiben und die in die Montage sprunghaft eingeschnitten sind. Bei ihrem Plädoyer für eine gleichberechtigte, freie Lebensgestaltung für Frauen in der Gesellschaft wirkt die Parallelhandlung in London bei ihrer Einführung auf die Jury ein wenig desorientierend. Die Fallhöhe zu der charismatischen Farah Noz ist hoch. Es hat den Anschein, dass die Filmemacherinnen ihrer im Vordergrund stehenden Protagonistin nicht zu hundert Prozent vertraut und bei der Gestaltung des Films ganz auf sie gesetzt haben. Nach Einschätzung der Jury hätte es die dramaturgisch etwas bemüht wirkende und erklärende Parallelhandlung nicht gebraucht. Farah ist so überzeugend, dass sie den Film in seiner Aussage nach Ansicht der Jury auch allein getragen hätte. Die Jury spricht sich deshalb für das Prädikat „wertvoll" aus.